Was ist Demokratie
Ansprüche wiederzugewinnen. Es war Churchills engster Verbündeter Roosevelt selber, der diesen Akzent anders setzte. In seiner «State of the Union»-Adresse vom 6. Januar 1941, also der jährlichen Grundsatzrede amerikanischer Präsidenten, definierte der gerade zum dritten Mal Gewählte «Vier Freiheiten», die er der «so genannten neuen Ordnung der Tyrannei, welche die Diktatoren mit dem Abwerfen von Bomben schaffen wollen», entgegensetzte und die «überall auf der Welt» gelten sollten. Die freie MeinungsäuÃerung und die Religionsfreiheit verdichteten das Programm der individuellen Grundrechte. Dazu kamen zwei Freiheiten «von» etwas: die Freiheit von Mangel und die Freiheit von Angst. Damit gab sich Roosevelt einerseits bescheidener als Schumpeter. Denn er formulierte das, was man allgemeine Voraussetzungen eines guten Lebens nennen könnte, ohne über eine politische Ordnung der freien Selbstregierung überhaupt etwas auszusagen. Und kam es darauf in der Situation von Krieg und Diktatur, von Mangel und Hunger, von elementarer Angst und physischer Gewalt nicht zuerst an? Andererseits gingen die «Vier Freiheiten» über Schumpeters dürre Verfahrensvorschrift weit hinaus. Denn sie sprachen von den Leistungen der Demokratie, von ihrem «output» für die Bürgerinnen und Bürger, auch dem materiellen â kein Wunder, dass der Maler Norman Rockwell die «Freiheit von Mangel» im März 1943 als üppiges Truthahn-Festmahl auf die Leinwand brachte und der kriegführenden Nation vor Augen führte.
Erst einmal Menschenwürde und elementare Rechte wiederherstellen â dann können wir vielleicht über anderes, auch über die Gestalt einer politischen Demokratie sprechen: Diese Variante des «bescheidenen»Demokratiediskurses spielte in den 1940er Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder eine zentrale Rolle. Von Roosevelts «Vier Freiheiten» führt eine Linie zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen im Jahr 1948. Aber auch in Deutschland orientierten sich Ideen der Opposition und des Neuaufbaus, von den letzten Jahren des NS-Regimes bis in die Gründung der Bundesrepublik und der DDR, an diesem Leitbild. Immer wieder wurde die NS-Diktatur zuallererst als eine Negation der Menschenwürde beschrieben; es galt, Grundregeln eines humanen und zivilen Zusammenlebens wieder zur Geltung zu verhelfen â diese Aufgabe war der eines Neuaufbaus der Institutionen vorgeordnet. So forderte der «Kreisauer Kreis», die Widerstandsgruppe um Helmuth James von Moltke, Peter Yorck von Wartenburg, Julius Leber und andere, in ihren «Grundsätzen zur Neuordnung» vom August 1943 zuerst, «das zertretene Recht» wiederaufzurichten, Glaubens- und Gewissensfreiheit zu gewährleisten und die «unverletzliche Würde der menschlichen Person» anzuerkennen. Für die daran anschlieÃende Skizze des politischen Aufbaus eines neuen Deutschlands bevorzugte man den Begriff der «Selbstverwaltung», weil mit der vermeintlich westlichen «Demokratie» immer noch viele fremdelten. Aber auch in der sozialistischen Tradition stand das Bekenntnis zu elementarer «Humanität» an vorderster Stelle. Im Grundgesetz der Bundesrepublik schlägt sich dieses Denkmuster der 1940er Jahre bis heute in dem vorangestellten Grundrechtsteil mit der allerersten Bestimmung der unantastbaren Würde des Menschen (Art. 1, Abs. 1, Satz 1) nieder.
Beiden Varianten der «neuen Bescheidenheit» der Demokratie eignete ein pragmatischer Grundzug. Sie spiegelten auf unterschiedliche Weise denselben Impuls, die utopisch übersteigerten VerheiÃungen aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hinter sich zu lassen. Die neuere historische Forschung hat eindringlich gezeigt, wie die Radikalisierung von Utopien während dieser Zeit immer wieder in einen mörderischen Machbarkeitswahn führte. Zwar war die Radikalisierung des Anti-Demokratischen noch nicht per se ein Argument gegen ein umfassendes, weit ausgreifendes Verständnis von Demokratie. In vieler Hinsicht galt es, zumal in Deutschland nach 1945, Demokratie gegenüber der Weimarer Erfahrung zu erweitern und sich nicht mit einer bescheidenen Schrumpfform zufrieden zu geben; etwa die politische Demokratie durch eine Demokratisierung der Wirtschaft zu ergänzen. Aber das Moment des
Weitere Kostenlose Bücher