Was ist Demokratie
abgespeckten, bescheidener gewordenen Begriffes von Demokratie, den schon die Zeitgenossen als «realistisch» bezeichnet haben. Das Grundmotiv dafür lässt sich einfach formulieren. Wenn ringsum in der Welt Freiheit und Menschenrechte von Diktatoren mit FüÃen getreten wurden, ging es beim Projekt Demokratie nicht um eine Ergänzung hier, eine Erweiterung dort, sondern um die Sicherung seiner Fundamente: Herrschaft auf Zeit und Auswahl eines verantwortlichen politischen Führungspersonals. Oder auch: Achtung der elementaren Freiheitsrechte, der Würde, ja des physischen Ãberlebens von Menschen.
Die bis heute berühmteste und einflussreichste Version einer solchen realistischen Demokratietheorie stammt von einem europäischen Emigranten in die USA: dem österreichischen Ãkonomen Joseph A. Schumpeter, der 1919/20 kurzzeitig als Finanzminister der neuen Republik Ãsterreich gedient hatte. Nach einigen Jahren als Vorstand einer privaten Bank übernahm er 1925 einen Lehrstuhl in Bonn, von wo er 1932 in die USA emigrierte, indem er einem Ruf an die Harvard University folgte und dort bis zu seinem Tod 1950 lehrte. Die Weltwirtschaftskrise und die Zerstörung der europäischen Demokratien hatten Schumpeter tief beeindruckt; er glaubte nicht mehr an die Ãberlebensfähigkeit des Kapitalismus, sondern sah den Ãbergang in einen Sozialismus, in eine weitgehend kollektivierte Wirtschaftsordnung voraus, ohne damit zum Marxisten zu werden. In vielem entsprach das einer pragmatischen sozialdemokratischen Linie der Zwischenkriegszeit, aber Schumpeter lieà sich nicht in eine Schublade stecken und war an anderer Stelle zugleich bürgerlich und konservativ.
1942 erschien die erste Auflage seines Buches «Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie», das bald Klassikerstatus erlangte. Darin rechnete Schumpeter mit der «klassischen Lehre von der Demokratie» ab, wie er sie im 18. Jahrhundert verankert und seitdem aufsteigen sah. Sie habe sich, so kritisierte Schumpeter, auf eine Vorstellung von Gemeinwohl und Gemeinwillen gestützt, die der Realität individueller Interessenartikulation nicht entspreche. Aus der Vielfalt der Argumente und Autoren des 18. Jahrhunderts wählte Schumpeter einen engen Ausschnitt, um seinen Gegenentwurf umso deutlicher davon abgrenzen zu können. Seine Kritik an einem einheitlichen, verbindlichen Gemeinwillen zielte auf die Lehre von Jean-Jacques Rousseau, die in den 20er und 30er Jahren immer wieder (wie bei Carl Schmitt) zur Rechtfertigung einer antiliberalen Pseudo-Demokratie gedient hatte. Deshalb wussteSchumpeter: Es war nicht nur empirisch unrealistisch, sich in einer Welt heterogener und inkonsistenter Interessen von Einzelnen auf einen vermeintlich «objektiv» festzustellenden Gesamtwillen des Volkes zu berufen. Es war auch höchst gefährlich. Zugleich bestritt Schumpeter die Rationalitätsvermutung der «utilitaristischen» Tradition, die den Wert eines politischen Regimes an ihrem Nutzen für einen möglichst groÃen Teil der Bevölkerung messen wollte: dem «gröÃten Glück der gröÃten Zahl», wie es Jeremy Bentham um 1800 genannt hatte. Schumpeters Menschenbild war skeptischer; wir würden heute wohl sagen: postaufklärerisch. Die Menschen handelten für ihn aus Impulsen und mit Zielen, die nicht immer rational waren und in einer besten Lösung konvergierten.
Darin war sich Schumpeter mit einem anderen österreichischen Emigranten einig: mit dem knapp zwanzig Jahre jüngeren Karl Raimund Popper, der 1937 von Wien nach Neuseeland gegangen war und nach dem Krieg, seit 1946, in London lehrte. Weg mit den groÃen Utopien und Geschichtsphilosophien von der Aufklärung über den Marxismus bis zu den völkisch-nationalen Visionen, so lautete die Forderung Poppers in seinen Schriften über das «Elend des Historizismus» und über die «Offene Gesellschaft und ihre Feinde». Wer die Demokratie zu einer Ideologie des Fortschritts oder gar zu einem Geschichtsgesetz stilisiert, der wird für diesen Zweck bald auch undemokratische Mittel heiligen. Von den ideologischen Lehren und umfassenden ZukunftsverheiÃungen müsse man im Angesicht der unfreien Gesellschaften und brutalen Diktaturen, die sich darauf im 20. Jahrhundert immer wieder gründeten, Abschied nehmen. An ihre Stelle sollte eine Politik der Bescheidenheit treten. Demokratie konnte gar
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