Was ist Demokratie
Wettbewerb um Stimmen, in den Parlamenten, im elementaren Grundrechtsschutz. Zugleich aber bildete sich ein neues Pathos der Demokratie: in der Abgrenzung der westlichen Freiheit gegenüber dem sowjetischen Kommunismus, der Hoffnungen auf eine Demokratisierung ganz Europas nach dem Zweiten Weltkrieg erstickt hatte. Die Rollen schienen klar verteilt: hier der amerikanische Lehrmeister, dort die westeuropäischen Schüler, zumal die Bundesrepublik. Aber mit der Ãbernahme demokratischer Institutionen war es nicht getan. Und das langsame Lernen aus der Vergangenheit wurde von neuen Ansprüchen auf Freiheit und Partizipation überholt, die sich mit der Bescheidenheit repräsentativer Demokratie nicht zufrieden geben wollten. Auch der Lehrer wurde wieder zum Schüler, als Protestbewegungen in Nordamerika und Westeuropa die Grenzen der Demokratie erneut verschoben.
Â
1 Neue Bescheidenheit:
Der realistische Demokratiebegriff der 1940er Jahre
Am Anfang der 1940er Jahre sah es für die Zukunft der Demokratie düster aus. Hitlers Armeen, deutsche Besatzungsbehörden und ihre Verbündeten beherrschten den gröÃten Teil Kontinentaleuropas. Im Osten leistete nur die Sowjetunion entschiedenen Widerstand, doch das stalinistische Regime war selber weit von demokratischen Verhältnissen entfernt. Im Westen gelang den Deutschen, trotz massiver Luftangriffe auf britische Städte wie London und Coventry, nicht der Sprung über den Ãrmelkanal. So blieben GroÃbritannien und die USA als die beiden demokratischen Vorposten, die zugleich (anders als etwa die Schweiz) über genügend machtpolitische und militärische Ressourcen verfügten, um dem Anspruch auf deutsche Hegemonie in einem rassischenWeltreich überhaupt entgegentreten zu können. Doch auch ihr Selbstbewusstsein war erschüttert, nicht nur durch äuÃere Verwundungen wie den japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941, der die Verletzlichkeit Amerikas traumatisch hatte spüren lassen, sondern auch durch innere Verunsicherung. Konnten die demokratischen Gesellschaften eine überlegene Antwort auf die immer noch spürbaren Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise finden? Und vor allem, konnten sie widerstehen, wenn der soziale und technische Wandel nach starken Führern und Eliten, nach dem Vorrang der Masse vor dem Individuum, nach straffer Hierarchie und Organisation statt demokratischer Unberechenbarkeit zu verlangen schien? Ob die «Vorposten» nicht eher die historisch letzten Rückzugsgebiete eines zu Ende gehenden politischen Experiments sein würden, war im Winter 1942/43 noch nicht entschieden.
Dabei spielten die demokratisch gewählten Führer Englands und der USA eine entscheidende Rolle: der konservative britische Premierminister Winston Churchill, der im Mai 1940 den mit dem Stigma des gescheiterten «Appeasement» behafteten Neville Chamberlain abgelöst hatte, und der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der im November desselben Jahres für eine nie dagewesene dritte Amtszeit bestätigt wurde. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Lager â Roosevelt war, in europäischen Kategorien, ein keynesianischer Sozialdemokrat â einte sie die tiefe Ãberzeugung von der Ãberlegenheit der repräsentativen Demokratie gegenüber der jüngeren Herausforderung der Diktaturen und die Fähigkeit, dafür immer wieder werbend aufzutreten. Eine Zeit für heroische Ãberlegenheitsgefühle war der Zweite Weltkrieg jedoch nicht; dafür war die Ernüchterung der vorangegangenen Jahrzehnte zu groà und die Lage zu prekär. Wie konnte die Demokratie in dieser Konstellation überhaupt wieder die Initiative zurückgewinnen, nachdem sie machtpolitisch, aber eben auch intellektuell dermaÃen in die Defensive geraten war?
Tatsächlich wurde die historische Situation um 1940/42 zu einem entscheidenden Wendepunkt, der aus der groÃen Krise der Demokratie seit dem Jahrhundertbeginn und zumal seit den 1920er Jahren allmählich hinausführte. Aber angesichts der schmerzhaften Erfahrungen und realen Bedrohungen konnte man an den alten Optimismus, an das progressiv-optimistische Sendungsbewusstsein, an die vermeintliche geschichtsphilosophische Mission der Demokratie nicht mehr ohne weiteres anknüpfen. Wer noch (oder wieder) Demokratie wollte, musstekleinere Brötchen backen. Das ist der historische Ort eines
Weitere Kostenlose Bücher