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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Utopiebruches behielt doch eine eigene undübergeordnete Bedeutung. Es signalisierte eine geschichtsphilosophische Entlastung der Demokratie und damit auch den Abschied von einem größeren Weltbild des Pathos, in dessen Rahmen die Demokratie sich nicht effektiv hatte verteidigen können.
    Die Schumpeter-Variante eines realistischen Demokratiebegriffs zog dabei keineswegs den Kürzeren. Sie hatte den Vorzug, auf reduzierte Weise einen schwer verzichtbaren Kern institutioneller Ordnung klar zu benennen. Denn auf Menschenwürde und Humanität, erst recht auf materielle Leistungen von Demokratie konnte man sich in den 1940er Jahren, außerhalb der rechten, faschistischen Diktaturen einschließlich des Nationalsozialismus, leicht berufen. Das taten auch die neuen sozialistischen Diktaturen unter der Führung der Sowjetunion, die sich bis zum Ende des Jahrzehnts in Mittel- und Osteuropa konsolidierten, das Schumpeter-Kriterium wettbewerblicher freier Wahlen jedoch sehr bald außer Kraft setzten. Zweifellos wirkten in dessen elitenzentriertem Verständnis von Demokratie antidemokratische Vorbehalte des Jahrhundertbeginns fort und überhaupt das Bild einer klar geordneten, hierarchischen Gesellschaft, jedenfalls gemessen an jener Infragestellung von Autorität und an der politisch-sozialen Buntheit, die schon in den 1960er Jahren vehement an die Tür der Schumpeter-Demokratie zu klopfen begann. Auf der anderen Seite markierte Schumpeters Beharren auf Wahlen, Repräsentation und Parlament vor dem Hintergrund des vehementen Antiparlamentarismus der Zwischenkriegszeit eine wichtige Richtungsänderung.
    Zur politischen Wirklichkeit der 1950er Jahre jedenfalls passte seine realistische Definition sehr gut, zumal für die junge Bundesrepublik. Sie wurde zuallererst als eine repräsentativ-parlamentarische Ordnung begründet, in der die unmittelbare Partizipation des Volkes allenfalls eine Nebenrolle spielen sollte: sei es aus begründeten Ängsten vor einer Wiederholung Weimars, sei es im Kontext eines konservativen Zeitgeistes und eines fortwirkenden Selbstverständnisses politischer Führungsschichten, wie es der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer geradezu idealtypisch verkörperte. Aber man muss sich hüten, darin einen (west-)deutschen Sonderweg zu sehen. Bis in die Mitte der 1960er Jahre reichte international eine Phase der Demokratie, die geradezu den historischen Höhepunkt der liberalen Repräsentativverfassung markierte: Sie schien in den westlichen, nordatlantischen Staaten nunmehr endgültig angekommen und gesichert; ihre wesentlichen Forderungen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert formuliert worden waren, galten alserfüllt. Die «Verführung der Massen» (José Ortega y Gasset) hatte eine Skepsis gegenüber direkten und plebiszitären Verfahren genährt, die nur ganz langsam durch neue Erfahrungen überwunden werden konnte. Nicht zufällig ergänzte in dieser Zeit eine starke Exekutive die Parlamentsdemokratie, in der westdeutschen Variante der «Kanzlerdemokratie» und noch deutlicher im Übergang Frankreichs zur Verfassung der Fünften Republik von 1958, die ganz auf den charismatischen Präsidenten und Kriegshelden Charles de Gaulle zugeschnitten war. Zehn Jahre später, im Mai 1968, wäre diese Republik fast im Protest der Pariser Arbeiter und Studenten gestürzt: Das markierte den Übergang in eine wiederum neue, von Protesten und zivilgesellschaftlicher Partizipation gefärbte Ära der Demokratie.
    Der reduzierte Pragmatismus der Kriegs- und Nachkriegszeit aber wirkte auch nach Schumpeter in einflussreichen Theorien und Begriffsbildungen fort. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert A. Dahl bildete gar ein neues Wort, das die moderne Demokratie in ihrer unideologischen Wirklichkeit einfangen sollte. Er nannte sie seit Mitte der 50er Jahre «Polyarchie», also Vielherrschaft. Darin steckte noch einmal sehr klar die Botschaft der angelsächsischen «Empiriker» an die kontinentaleuropäischen, vor allem französischen und deutschen «Ideologen» der Demokratie: Es geht nicht um die Herrschaft des (einheitlichen) Volkes, schon gar nicht um eine Identität von Regierenden und Regierten – die konnten auch Diktaturen für sich in Anspruch nehmen. Vielmehr sollten, auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, Vertreterinnen und Vertreter die Macht übertragen

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