Was ist Demokratie
häufig in vielgelesenen Artikeln der «Zeit». Aus der Parteienvielfalt der frühen 1950er Jahre war tatsächlich bloà das Zweieinhalbparteiensystem aus Union, SPD und FDP übriggeblieben, dem in den 60er und 70er Jahren oft Ewigkeitscharakter prophezeit wurde. Das erwies sich schon mit dem Auftritt der NPD als falsch; erst recht und dauerhaft mit dem Aufstieg der Grünen Partei seit 1980 und später der Integration der PDS/Linkspartei in das gesamtdeutsche Parteienspektrum. Gegen einen allzu groÃen Konsens der Parteien wollten viele in der Mitte der 1960er Jahre dem britischen Prinzip der Westminster-Demokratie folgen und damit zugleich das Parlament aufwerten: mit der Ablösung des (modifizierten) Verhältniswahlrechts durch das Mehrheitswahlrecht nämlich, das sich die GroÃe Koalition eine Zeitlang auf dieFahnen schrieb; zugunsten des Ãberlebens der FDP wurde dieser Plan schlieÃlich fallen gelassen. Antidemokratisch war er aber nicht.
Jaspersâ Kritik an der «Oligarchie» der Parteien folgte unverkennbar älteren, zumal in Deutschland weit verbreiteten Denkmustern der Parteienfeindlichkeit. Jüngere wie Ralf Dahrendorf wiesen polemisch darauf hin, dass diese Tradition, wie sie etwa Robert Michels in der Zwischenkriegszeit vertrat, sogar ein ungeklärtes Verhältnis zum Faschismus habe. Dabei konstatierte Dahrendorf im Januar 1968 selber: «Es steht nicht gut um die deutsche Demokratie»; er forderte zukunftsweisende politische Entwürfe ebenso wie moderne demokratische Führer, die er im politischen Personal seiner Zeit kaum zu erkennen vermochte. Vor allem aber: Der ganze Streit war für ihn ein notwendiger Bestandteil der modernen Demokratie, die sich immer wieder mit dem Missverhältnis zwischen Anspruch und Realität auseinanderzusetzen habe, weil sie nie perfekt sein konnte und sich beständig weiterentwickelte wie die Gesellschaft, die sie trug. Von einem drohenden Ãbergang in die Diktatur musste diese Normalität von Streit und auch von Defiziten aber unbedingt unterschieden werden. Denn sonst missverstand man die parlamentarische und Parteiendemokratie â wie Jaspers â, oder man stand in der Gefahr, den «liberalen» Demokratiebegriff durch einen «fundamentalen» zu ersetzen â das warf Dahrendorf im Dezember 1967 im «Merkur» der immer lauter aufbegehrenden Studentenbewegung vor.
Die drängendste Sorge vor einem Rückfall der Bundesrepublik in die offene oder verdeckte Diktatur aber artikulierte sich zur selben Zeit im Protest gegen die Notstandsgesetze. Wie sollte der Staat mit einem zivilen oder militärischen Notstand umgehen, mit dem «Verteidigungsfall» (den man sich damals als groÃen Panzerkrieg gegen die Ostblockarmeen auf deutschem Boden vorstellte) oder mit einer gröÃeren Naturkatastrophe? Wer sollte Entscheidungen treffen, wenn der Bundestag nicht zusammentreten konnte, und vor allem: welche Grundrechte durften in einem solchen Fall eingeschränkt werden, um die Katastrophe effizient zu bewältigen? Das zu regeln ist auch in Demokratien üblich, und meistens läuft es auf eine vorübergehende Stärkung der Exekutive hinaus. Für die Bundesrepublik galten in einem Notstand zunächst die alliierten Vorbehaltsrechte, doch waren die Deutschen beauftragt, Vorsorge in einer eigenen Gesetzgebung zu treffen. Seit 1958 diskutierten Parlament und Experten in immer neuen Anläufen ein entsprechendes Bündel von Notstandsgesetzen, für das jedoch im Bundestagdie Zweidrittelmehrheit einer Verfassungsänderung erforderlich war. So bot die GroÃe Koalition dazu die Gelegenheit; und obwohl es auf dem linken Flügel der SPD bis zum Schluss Unbehagen und Widerstand gab, trat die sogenannte Notstandsverfassung am 28. Juni 1968, vier Wochen nach der Zustimmung des Bundestages, in Kraft.
Die Kritiker sahen in den Notstandsgesetzen jedoch einen gefährlichen und grundsätzlichen Angriff auf die parlamentarische Demokratie. Sie warfen den Befürwortern, besonders den Innenpolitikern der Unionsparteien, vor, sich damit auf bequeme Weise der eigentlich ungeliebten demokratischen Regierungsform wieder entledigen und ihren autoritären Neigungen nachgeben zu können. Mindestens würden die Notstandsgesetze eine Brücke bieten, über die unbequeme Grundrechte von Bürgern wie die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt oder gar der Weg
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