Was ist Demokratie
charismatischen Führung von Marion Gräfin Dönhoff zu dem demokratischen und liberalen Paradeorgan entwickeln, das wie kein zweites für den politischen Gesinnungswandel der deutschen Bildungsschichten im 20. Jahrhundert steht. Eine solche Rolle nahm â mit noch breiterer Wirkung in die Gesellschaft und zugleich gefürchtet von der Politik â auch das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» in Anspruch, das sein Gründer und Herausgeber Rudolf Augstein selbstbewusst als «Sturmgeschütz der Demokratie» bezeichnete. Die «Spiegel-Affäre» wurde im Herbst 1962 zu einer formidablen Staatskrise der Bundesrepublik: Mit dem bundeswehrkritischen Artikel «Bedingt abwehrbereit» hatte der «Spiegel» sich angeblich des Landesverrats schuldig gemacht; Augstein und der Autor Conrad Ahlers wurden verhaftet, die Redaktionsräume durchsucht. Am Ende musste Franz Josef Strauà als Verteidigungsminister zurücktreten; und Adenauers Stern sank weiter, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Kanzler schon im Vorjahr in dieSchranken gewiesen hatte, als er das «Zweite Deutsche Fernsehen» allzu regierungsnah etablieren wollte. Die Spiegel-Affäre mobilisierte wie nie zuvor eine kritische Ãffentlichkeit, von Gewerkschaften bis zu Intellektuellen und Studenten, stärkte die Pressefreiheit und erschütterte die zähen Restbestände eines obrigkeitlich-autoritären Verhältnisses von Politik und Gesellschaft. Demokratie hieà seitdem nicht nur, alle Verantwortung auf Zeit einer politischen Elite zu übertragen, sondern gründete maÃgeblich auf jederzeit wachen und aktiven Bürgerinnen und Bürgern. Insofern markierte die Spiegel-Affäre eine Ãberwindung deutscher Defizite nach der NS-Diktatur und wies zugleich in eine neue Phase der mehr partizipativen Demokratie voraus.
Bis in die 1970er Jahre wurde der demokratische Neuanfang der Bundesrepublik überwiegend in der Alternative von «Restauration oder Neubeginn» interpretiert. Die Linke klagte über die vermeintlich verpasste Chance eines sozialistischen «Dritten Wegs» und warf der Bundesrepublik eine kapitalistische Restauration vor, die (auf der Grundlage der marxistischen Faschismusdeutung) eine unmittelbare Kontinuität zum NS-Regime implizierte. Dagegen stand die optimistische These einer «Stunde Null» im Jahre 1945, in der ein erfolgreicher Neubeginn auf reinem Tisch gemacht worden sei. Beide Deutungen spielen heute keine Rolle mehr. Die Restaurationsthese ist zu offensichtlich ideologisch verzerrt; sie verfehlt die Zäsur von 1945/49 und die bei allen Defiziten, Konflikten und mühsamen Lernprozessen erfolgreiche Etablierung der Demokratie. Die These vom Neubeginn wiederum übersieht die Kontinuitäten des Nationalsozialismus, dessen Strukturen, Denkweisen, Mentalitäten in fast allen Bereichen der Gesellschaft präsent blieben. Die personellen Kontinuitäten waren dabei am Ende wohl weniger wichtig als die bis heute in immer neuen Facetten beschriebene Tatsache, dass das «Dritte Reich» die Deutschen viel tiefer geprägt hatte, als sie 1945 und noch viele Jahrzehnte danach wahrhaben wollten.
Heute erscheinen die 50er und 60er Jahre nicht als eine Phase der Stagnation, sondern der dynamischen Modernisierung unter konservativem Vorzeichen. Seit den späten 50er Jahren traten dabei Impulse der Liberalisierung immer mehr in den Vordergrund; versteckte Kontinuitäten aus der NS-Zeit kamen in die offene Kritik; neues politisches Interesse erwachte; ein markanter Generationswandel deutete sich an. Mit dem raschen wirtschaftlichen Erfolg stellte sich verloren geglaubte Bürgerlichkeit wieder her, aber diese Wieder-Verbürgerlichung derBundesrepublik geht nicht in «Restauration» auf, weil sie zugleich die Keime für das neue Bürgertum legte, das seit den 1970er Jahren neue soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Institutionen und partizipative Demokratie vorantrieb. Unvermeidlich steht der Blick auf Defizite der demokratischen politischen Kultur in den frühen Jahrzehnten der Bundesrepublik unter dem Vorzeichen nationalsozialistischer Kontinuität, der Verarbeitung und Verdrängung von Diktatur und Holocaust, und damit einer umfassenden «Re-Zivilisierung» (Konrad H. Jarausch) der Deutschen, über die schnelle Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie als Regierungsform hinaus. Oft genug ist diese Perspektive
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