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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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in die Diktatur beschritten werden könne. Viele zogen die Parallele zum 23.März 1933, zum «Ermächtigungsgesetz», mit dem die Nazis de facto das Parlament abgeschafft hatten. Aber die Parallelen zum «Dritten Reich» waren in der kritischen Öffentlichkeit überhaupt allgegenwärtig, bis hin zur Bezeichnung als «NS-Gesetze». Zweifellos hatten vor allem Politiker der CDU und CSU nicht nur das kritische Protestpotential unterschätzt, sondern sich über viele Jahre auch ungeschickt und unsensibel gegenüber Fragen der Grundrechtswahrung verhalten. Niemand plante die Diktatur, aber die Neigung zu eher exekutiv-autoritären Lösungen der Notstandsfrage entsprach fraglos der Grundhaltung mancher Konservativer, wie auch die Sensibilität gegenüber dem individuellen Grundrechtsschutz erst im Gefolge der Notstandsdebatte deutlich wuchs. Mit dem Eintritt der SPD in die Regierung erfolgte eine Kurskorrektur in eine liberalere Richtung. Bereits geheim an verschiedene Behörden verbreitete Regelungen für den Notstand, die «Schubladengesetze», landeten im Papierkorb. Als politische Kompensation, und zugleich als Schutz vor einem möglichen Missbrauch der Notstandskompetenzen, wurden 1968 das Widerstandsrecht (Art. 20, Abs. 4) und das individuelle Recht der Verfassungsbeschwerde (Art.93, Abs.1, Nr.4 a) ins Grundgesetz aufgenommen.
    Die Protestbewegung hatte sich jedoch längst vorher formiert und trat mit dem Kongress «Demokratie vor dem Notstand» in der Universität Bonn am 30. Mai 1965 markant in Erscheinung. Der Protest vereinte Hochschullehrer und Studenten, linke und liberale Juristen, Intellektuelle und Gewerkschaften in der Sorge um die Sicherung vonFreiheiten, zum Teil auch im Kampf um ein prinzipiell erweitertes Verständnis von Demokratie, wie es die Studentenbewegung und die «Neue Linke» vertrat, etwa im Sinne einer Demokratisierung der Hochschulen oder der Betriebe. Das Bündnis sah sich selbst als «außerparlamentarische Opposition» – abgekürzt: APO –, eine Bezeichnung, die später überwiegend für die revoltierenden Studenten benutzt wurde. Man konnte diesen Begriff unterschiedlich interpretieren: als eine Ersatz-Opposition angesichts des Konsenses der parlamentarischen Parteien, erst recht in der Großen Koalition; aber auch als eine prinzipielle Kritik an der parlamentarischen Demokratie, die durch eine Opposition von außen und von unten mindestens ergänzt, vielleicht sogar in Frage gestellt werden sollte. Tatsächlich trennten sich in der Schlussphase des Protests gegen die Notstandsgesetze die Wege der Gewerkschaften und der zunehmend radikalisierten Studenten auch an dieser Grundfrage. Aber eine Zeitlang war das schon in der Spiegel-Affäre erprobte Bündnis breit und effektiv.
    Dem Bonner Treffen folgte am 30. Oktober 1966 ein zweiter Kongress in Frankfurt am Main mit anschließender Demonstration auf dem Römerberg, diesmal unter dem Titel «Notstand der Demokratie». Der Aufruf erinnerte daran, dass das Grundgesetz «ein Bollwerk gegen jede Form der Diktatur» sein wollte, was jetzt offenbar nicht mehr gelten sollte. Schon mit den Schubladengesetzen sei die Verfassung gebrochen worden – jetzt drohe «Gefahr, dass die rechtsstaatliche und freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Staatswesens zum zweitenmal in diesem Jahrhundert aufgehoben wird». Redner des Kongresses sprachen von «uns, die wir die Demokratie erhalten wollen», als werde ringsum ihre Abschaffung vollzogen. Die Schlusserklärung des «Kuratoriums Notstand der Demokratie» forderte die «Rückkehr zu verfassungsmäßigen Zuständen» und erinnerte die Abgeordneten des Bundestages «an das Ermächtigungsgesetz vom März 1933, das den Untergang der ersten deutschen Republik endgültig besiegelt hat». Eindeutig war jedenfalls: Nicht ein emphatischer Optimismus der Demokratieerweiterung in der Zukunft einer expandierenden Bundesrepublik bestimmte das Weltbild dieses Protests, sondern eine tiefe Verdüsterung, geprägt durch den Blick in die Vergangenheit und die Furcht vor einer Wiederholung der deutschen Geschichte.
    Diese Demokratieangst war zutiefst ernst und aufrichtig. Das muss man anerkennen, auch wenn heute kein Zweifel daran besteht, dass sie mögliche reale Gefahren grandios übertrieb (und im Extremfall paranoideFormen annahm). So

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