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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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zeigt der «Notstand der Demokratie» in der Bundesrepublik der mittleren und späten 60er Jahre gleich mehreres: Erstens unterstreicht er die Wirkmächtigkeit der nationalsozialistischen Diktatur in der Geschichte der zweiten Demokratie. Jüngere Generationen begannen nun, das Trauma des «Dritten Reiches», später auch des Holocausts, für sich zu adoptieren, gerade weil sie den Älteren vorwarfen, nicht genug durch diese Erfahrung erschüttert worden zu sein. Zweitens war die Überlebensangst der Demokratie Vorbote eines tiefen kulturellen Umschwungs, der Protest- und Demokratiebewegungen vor allem seit den 70er Jahren nicht mehr unter dem Zeichen des siegesgewissen «Mit uns zieht die neue Zeit» antreten ließ, sondern aus tiefer Angst und kollektivpsychischer Verstörung. Bald ging es nicht mehr «nur» um das Überleben der Freiheit, sondern um das existenzielle Überleben der Menschheit angesichts von Umweltzerstörung und drohender atomarer Vernichtung. Drittens konnten die Proteste als Indiz einer kritischen Öffentlichkeit gelten, die sich auch außerhalb von Parlament, Parteien oder etablierten Meinungsmedien artikulierte und damit nicht nur in einen erweiterten Diskurs über Demokratie eintrat, sondern auch das Spektrum der Formen erweiterte, in denen sich dieser Streit vollzog. In Inhalt und Formen wurden die Grenzen der Demokratie erprobt, verschoben und manchmal auch überschritten.
9 «Mehr Demokratie wagen»:
Der Streit um die Herrschaftsform als Lebensstil
    Weithin waren die 1960er und die frühen 1970er Jahre nicht eine Ära der Furcht, sondern eine Phase des nahezu grenzenlosen Optimismus, des Glaubens an den Fortschritt und die Machbarkeit bisher für utopisch gehaltener Dinge. Für die ganze Welt hatte der junge US-Präsident John F. Kennedy das zum Ausdruck gebracht, als er kurz nach seinem Amtsantritt, im Mai 1961, die Landung von Amerikanern auf dem Mond innerhalb von zehn Jahren versprach – am 20. Juni 1969 war es mit der von Neil Armstrong geführten «Apollo 11»-Mission so weit. Derselbe Optimismus und die Überzeugung, sich in den Stromschnellen der Weltgeschichte zu bewegen, befeuerte auch Studenten und Intellektuelle in Westeuropa und den USA, die vom unmittelbaren Bevorstehen und der Machbarkeit einer sozialistischen Revolution in ihren Ländern überzeugt waren. So geriet auch die Demokratie in denSog der Veränderung. Nach dem Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der Sicherheit einer neuen Prosperität, sollte Demokratie grundlegend erweitert werden. Sie sollte über den engeren Bereich der politisch-staatlichen Ordnung hinausreichen und nicht als ein fester Zustand, sondern eher als ein Prozess verstanden werden, der sich immer wieder selbst antrieb und nie an sein Ende kam.
    Gestützt auf die Fortschritte von Wissenschaft und Technik im «Atomzeitalter», traute sich die Politik in dieser Zeit mehr zu als bisher. Gegen die liberale Vorstellung einer selbstgesteuerten Gesellschaft und Wirtschaft, in die der Staat so wenig wie möglich eingreifen solle, setzten sich Strategien der staatlichen Intervention und Steuerung durch, deren einflussreichste Variante die Wirtschaftspolitik des «Keynesianismus» war; in der Variante der «Globalsteuerung» kam sie Ende der 60er Jahre endgültig auch in der Bundesrepublik an. Gegen die pragmatische Vorstellung von demokratischer Politik als «muddling through», als einem Lavieren durch die gerade akuten Probleme, stand nun auch im Westen zunehmend die Idee einer langfristigen Planung gesellschaftlicher Entwicklung. Die Anhänger von «Konvergenztheorien» glaubten damals ohnehin, die Unterschiede zwischen West und Ost, zwischen demokratischem Kapitalismus und realem Sozialismus würden sich zunehmend abschleifen auf dem Weg in die Gemeinsamkeit einer bürokratisch-technischen Zivilisation. «Technokratie» war ein populäres Schlagwort: Statt dem Volk würde die Technik die eigentliche Herrscherin sein. Das konnte man in «linker» Perspektive als saint-simonistische Verheißung einer postkapitalistischen und nachstaatlichen Gesellschaft der Freiheit verstehen oder – in der konservativen Variante – als Hinweis auf die Übermacht der äußeren Verhältnisse, der sich überzogene Freiheitsansprüche des Menschen, erst recht linke Revolutionsgelüste, zu fügen

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