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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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hatten.
    Zwischen der revolutionären Verheißung und der schicksalhaften Erstarrung floss jedoch ein reformerischer Hauptstrom, den in der westlichen Politik besonders die sozialdemokratischen Parteien und Regierungen repräsentierten. Die westdeutsche SPD ließ sich dabei von angelsächsischen Vorbildern, von den demokratischen Präsidenten Kennedy und Johnson und dem britischen Labour-Premier Harold Wilson inspirieren, zunehmend auch von den skandinavischen Sozialdemokraten. Willy Brandt, Regierender Bürgermeister von Berlin 1957–1966, war 1964 ihr neuer Vorsitzender geworden. Der charismatische «deutsche Kennedy», als der er seit seiner ersten Kanzlerkandidatur1961 manchmal bezeichnet wurde, beflügelte seine Partei und eine breitere Öffentlichkeit mit Zuversicht und Aufbruchsgeist. «Genosse Trend» sorgte derweil, als reduzierte Version des Hegelschen Weltgeistes, für stetig bessere Wahlergebnisse. Auf dem SPD-Parteitag im November 1964 sprach sich Brandt, unter Berufung auf Johnson und Wilson, für eine aktive Gestaltungsrolle der Politik aus, gegen ein «zaghaftes Sich-Treibenlassen». Für die nun anbrechende «neue Zeit» – ein Begriff aus der SPD-Welt des späten 19. Jahrhunderts, der wieder Aktualität gewann – sei ein «aktives und präventives Vorausdenken» nötig. «Unser Volk muss von seiner Regierung verlangen, dass sie der demokratischen Dynamik unserer Zeit nicht ausweicht, sondern sich auf sie einstellt.» In Skandinavien, das Brandt aus der Zeit seiner norwegischen Emigration gut kannte, stoße man bereits in neue Dimensionen der sozialen Sicherung und der Freiheit vor: «die nächste, für uns noch die übernächste Stufe der Demokratisierung». Mit Brandt sahen viele Reformer in den westlichen Ländern die Zukunft der Demokratie als Teil eines «social engineering», einer politischen Steuerung der Gesellschaft mit wissenschaftlichen Mitteln zu immer mehr Wohlstand, Sicherheit und Freiheit. Nachdem die SPD sich mit dem «Godesberger Programm» von 1959 endgültig von der marxistischen Klassenpartei in die linke Volkspartei der parlamentarischen Demokratie verwandelt hatte, konnte sie so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: sich zum Westen bekennen und trotzdem von den bürgerlich-konservativen Parteien unterscheiden.
    Die Wahl des bisherigen Justizministers Gustav Heinemann (SPD) zum neuen Bundespräsidenten am 5. März 1969 mit den Stimmen der FDP ließ eine neue, reformerische Mehrheit erkennen, die nach der Bundestagswahl vom 28. September desselben Jahres die «sozialliberale Koalition» unter Brandts Führung bildete. Auch Heinemann, wenngleich in Herkunft und Naturell von Brandt sehr verschieden, sah den Übergang in eine neue Phase der Demokratie voraus. Dabei ging es nicht um ein neues Set von Institutionen, das an die Stelle der Parlamente und der Grundregeln der repräsentativen Demokratie treten sollte; insoweit wandten sich die Reformer dezidiert gegen die revolutionär-utopistischen Studenten. Es ging um den Übergang aus der «Fremdbestimmung des Menschen in eine verantwortliche Eigenbestimmung», also um die Fortsetzung des Projektes der Aufklärung oder, mit einem Modewort jener Zeit, um «Emanzipation». Autorität und Tradition müssten sich in allen Bereichen die Frage nach ihrer Rechtfertigunggefallen lassen. Davon allerdings war auch der demokratische Staat mit seinen Verfassungsorganen nicht ausgenommen. Mehr Freiheit in konkreten und persönlichen Chancen für alle war das Ziel. «Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben.»
    Die zentrale Stellung der Freiheit war kein Zufall; man findet sie ebenso dezidiert bei Willy Brandt. Der Freiheitsbegriff erschloss am Ende der 1960er Jahre neue Dimensionen jenseits jener emphatisch-existenziellen Freiheit gegen die totalitäre Unterdrückung, die der Konsensliberalismus des Kalten Krieges in den Mittelpunkt gestellt hatte. Sie meinte Handlungsspielräume der individuellen Entfaltung – der «Selbstverwirklichung», sagte man bald gerne – auch außerhalb der engeren politischen Zone der freien Selbstregierung oder der klassischen Grund- und Freiheitsrechte der Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts. Als Willy Brandt jedoch in

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