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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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berechtigt. Aber auch in den westlichen «Musterländern» wurde Demokratie in den 50er Jahren anders verstanden und praktiziert als in den 70er Jahren oder heute: Die politischen Eliten waren weiter vom Volk entfernt, der Alltag hierarchischer, Familien- und Geschlechterrollen männlich-patriarchalisch dominiert. Deshalb ist es gar nicht so leicht zu sagen, was an der Weiterentwicklung der westdeutschen Demokratie und ihren Lernprozessen das Wettmachen von Schuld und Rückstand war, und was schon Weiterentwicklung im Hauptstrom der demokratischen Dynamik des späten 20.Jahrhunderts. In den 70er Jahren konnte man die Bundesrepublik gewiss als eine «geglückte Demokratie» (Edgar Wolfrum) bezeichnen, zumal der Weimarer Maßstab sich nie ganz ausblenden ließ. Aber er trat in den Hintergrund, während das Lernen weiterging.
8 Notstand der Demokratie?
Die Ängste der 1960er Jahre
    Am Anfang der 1960er Jahre hatte die Bundesrepublik zu einer demokratischen Normalität gefunden wie andere Nachkriegsdemokratien auch. Ende 1963 überholte sie schon die Lebensdauer der Weimarer Republik, als Ludwig Erhard den Gründungskanzler Adenauer nach vierzehnjähriger Amtszeit ablöste. Gleichzeitig regten sich, wie in der Spiegel-Affäre, neue und kritische Impulse, die längst als wichtige Schritte zu einer inneren Demokratisierung Westdeutschlands verstanden werden. Wie war es dann möglich, dass nur wenige Jahre später, vor allem zwischen 1965 und 1968, tiefe Zweifel über die Funktions- und Überlebensfähigkeit der zweiten deutschen Demokratie aufkamen, vorgetragen von besorgten Intellektuellen ebenso wie von jungen Menschenauf der Straße? Dabei ging es nicht um eine Kritik an Einzelheiten oder Personen, sondern um die ganz fundamentale Angst vor dem erneuten Abrutschen in die Diktatur, vor einem zweiten «1933», das kurz bevorstehe oder sich auf schleichendem Wege gar schon vollzogen habe. Es erscheint paradox, dass die objektiv unsicheren Gründerzeiten überwiegend von Optimismus getragen waren – und sich während der Normalität tiefer Pessimismus ausbreitete, in Teilen der Eliten ebenso wie in breiteren Kreisen der Bevölkerung. Aber «normal» war die Bundesrepublik eben noch lange nicht. Aus heutiger Sicht, mit dem Abstand fast eines halben Jahrhunderts, gehört die Krise von 1965/68 zur Gründungszeit dazu, zumal in ihren vielfältigen Bezügen auf die Zeit des Nationalsozialismus. Zugleich war sie die westdeutsche Variante einer internationalen Bewegung, mit der die Demokratie überall im Westen die unmittelbare Nachkriegsphase hinter sich ließ.
    Auf der internationalen Bühne begann nach den Höhepunkten des Kalten Krieges in der zweiten Berlinkrise um den Mauerbau 1961 und der Kuba-Krise von 1962 eine Phase der Entspannungspolitik, der die Bundesrepublik jedoch zunächst sehr skeptisch gegenüberstand. Gleichzeitig spitzte sich der «Stellvertreterkrieg» der Supermächte in Vietnam zu; die USA stiegen seit 1964/65 unter Präsident Lyndon B. Johnson in einen umfassenden und brutal geführten Krieg ein. Dagegen regten sich im eigenen Land Proteste, die sich mit den Anfängen der Studentenbewegung überlappten, und vor allem mit der von Martin Luther King charismatisch geführten Bürgerrechtsbewegung. Das ermunterte zu Protesten auch in Deutschland, zumal in West-Berlin, wo die Präsenz der Amerikaner und die Systemkonkurrenz von liberaler Demokratie und sowjetischem Kommunismus alltäglich besonders spürbar war. Aber die deutschen Verhältnisse wirkten im Vergleich eher erstarrt und wenig dynamisch. Ludwig Erhard, schon damals als Vater des «Wirtschaftswunders» verehrt, erwies sich als ein schwacher und glückloser Bundeskanzler. Im Dezember 1966 löste eine Große Koalition aus Unionsparteien und SPD die bürgerliche Koalition ab. Die FDP ging mit ihren 50 Abgeordneten in die Opposition, die sie nun alleine bildete, während die SPD, angetrieben von Herbert Wehner, 36 Jahre nach dem Ende der letzten Großen Koalition der Weimarer Republik, endlich wieder nationale Regierungsverantwortung tragen konnte und mit ihrem Hoffnungsträger Willy Brandt den Außenminister und Vizekanzler stellte.
    In der Forschung wird der ersten Großen Koalition heute überwiegend ein günstiges Zeugnis ausgestellt, aber die zeitgenössische Öffentlichkeit sah das weithin anders.

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