Was ist Demokratie
Der scheinbar unendliche Konjunkturboom brach in der kleinen Rezession von 1966/67 erstmals ab; die Arbeitslosigkeit stieg; die Bundesregierung reagierte mit dem «Stabilitäts- und Wachstumsgesetz». Die Wahl Kurt Georg Kiesingers, des langjährigen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, zum Bundeskanzler irritierte viele Jüngere, weil Kiesinger seit 1932 der NSDAP angehört und im «Dritten Reich» eine beachtliche Karriere im Auswärtigen Amt gemacht hatte. Sie bestätigte scheinbar Befürchtungen, die Westdeutschen hätten sich nur oberflächlich von der NS-Diktatur gelöst, die durch die Hintertür der Demokratie wieder salonfähig werde. Das galt erst recht für den fulminanten Aufstieg der NPD, einer 1964 gegründeten rechtsradikalen Partei, in der sich unmittelbare â auch personelle â Kontinuität zur NSDAP mit den Anfängen des Neonazismus verband. Während der GroÃen Koalition profitierte die NPD von dem Eindruck vieler Bürger, die beiden groÃen Volksparteien unterschieden sich eigentlich nicht mehr richtig voneinander. In Kommunal- und Länderwahlen eilte die NPD 1967 von Erfolg zu Erfolg, übersprang immer wieder die Fünfprozenthürde und erreichte im April 1968, bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, sogar knapp zehn Prozent der Stimmen. Allgemein wurde auch ihr Einzug in den Bundestag bei den Wahlen am 28. September 1969 erwartet (und befürchtet), den sie jedoch mit 4,3 Prozent der Zweitstimmen verfehlte.
Das neue Unbehagen an der Demokratie ging jedoch der GroÃen Koalition und den Erfolgen der NPD voraus. Die Kritik kam keineswegs nur von der radikalen Linken, sondern auch aus der bürgerlichen Mitte â ihr wichtigster Stichwortgeber war Karl Jaspers, ein seit 1948 in Basel lehrender Philosoph, der sich seit längerem in die öffentlichen Debatten einmischte. Im Frühjahr 1965 hatte er das bereits in einem «Spiegel»-Gespräch mit Rudolf Augstein getan, als der Bundestag die Verjährung von NS-Verbrechen diskutierte, denn Mord verjährte nach dem Strafgesetzbuch nach zwanzig Jahren. Für Jaspers waren im «Dritten Reich» nicht nur Verbrechen begangen worden, sondern der Nazistaat sei überhaupt ein «Verbrecherstaat» gewesen; eine Auffassung, die sich erst viel später allgemein durchsetzte. Ein Jahr später erschien das Gesicht von Jaspers, mit sorgenvoller Miene, sogar auf dem Titelbild des «Spiegel» vom 18. April 1966: «Wohin treibt die Bundesrepublik?» Der Philosoph sah die deutsche Demokratie auf einer schiefenEbene, die nach und nach in eine Diktatur führen müsse; von eigensüchtigen Politikern vernachlässigt, treibe sie chaotisch diesem Schicksal entgegen. «Welcher Wandel vollzieht sich in der Struktur der Bundesrepublik? Es scheint: von der Demokratie zur Parteienoligarchie, von der Parteienoligarchie zur Diktatur.»
Sein zentraler Vorwurf war also, dass die Staatsgewalt in Wirklichkeit nicht mehr vom Volke ausginge, sondern Parteigremien die Machtpositionen vorab unter sich ausmachten, etwa bei der Aufstellung der Landeslisten. Zum Teil sah Jaspers darin bereits einen Gründungsdefekt des Grundgesetzes, das «die Wirksamkeit des Volkes auf ein Minimum eingeschränkt» habe, nämlich auf die Bundestagswahlen alle vier Jahre. Damit erfasste er den antiplebiszitären Impuls der Verfassungsgebung von 1949 einerseits richtig, saà andererseits aber einem bis heute weit verbreiteten Missverständnis auf, denn eine solche Beschränkung nimmt das Grundgesetz ja keineswegs vor; vielmehr ermuntert es zur politischen Mitarbeit an vielen Stellen, unter anderem in den Parteien. Die Parteien jedoch hätten sich nach auÃen abgeschottet oder operierten, statt zu informieren, nur noch «nach Prinzipien der Reklametechnik». Dass ihre Gründung frei sei, stimme «nur formal», denn gegen das Ãbergewicht der etablierten Parteien hätten Neugründungen kaum eine Chance.
Zweifellos legte Jaspers den Finger in viele Wunden der parlamentarischen und Parteiendemokratie, und das in einer kritischen Phase der politischen Entwicklung in der Bundesrepublik. Vor der Ãbermacht organisierter Interessen der Parteien oder auch der Interessenverbände gegenüber dem einzelnen Bürger hatte auch der Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg mindestens ein Jahrzehnt lang gewarnt,
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