Was ist Demokratie
seiner programmatischen Regierungserklärung am 28. Oktober 1969, Heinemann folgend, ankündigte: «Wir wollen mehr Demokratie wagen», dachte er zunächst einmal an einen transparenten Stil der Politik, an eine neue Durchsichtigkeit des Regierens gegenüber dem Volk. Dem «kritischen Bedürfnis nach Information» sollte Genüge getan werden; durch «Anhörungen im Bundestag, durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik» sollte es allen Bürgern möglich sein, «an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken». In dem Akzent auf der Mitwirkung durch Information schwang sogar ein eher staatsnahes Verständnis von Demokratie mit, die sich auf diese Weise von oben nach unten vollzog.
Das meinte Brandt zwar so eng nicht, doch der Stil planend-zentralisierter Steuerung war der frühen sozialliberalen Koalition durchaus nicht fremd; in Horst Ehmkes straff geführtem Kanzleramt als Schaltstelle rationaler Regierungsplanung drückte sich das klar aus. Den ganz anderen Stil einer emotional motivierten, «von unten nach oben» denkenden Demokratie, der sich nur wenige Jahre später in den ersten Protesten von Bürgerinitiativen gegen Atomkraftwerke regte, nahm Brandt jedenfalls noch nicht vorweg. Grundgedanke war eher die Einbindung der Proteste in die klassischen Institutionen, mehr Partizipation durch die Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre und mehr Mitbestimmung «in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft». Vorallem aber wandte der neue Kanzler sich ganz entschieden gegen die Demokratieängste der 60er Jahre; es gelang ihm, fundamentale Kritik und Pessimismus in einen konstruktiven Optimismus zu wenden. «In den letzten Jahren haben manche in diesem Land befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.»
Damit verschob sich die Bedeutung von «Demokratie» ganz entscheidend, und zwar in zweierlei Hinsicht. Demokratie war, erstens, nicht mehr nur ein Zustand, ein festes Ensemble von Regeln und Institutionen, das man hatte oder nicht. Sie war etwas Dynamisches und nie Fertiges, sie war ein Prozess; «Demokratisierung» wurde deshalb zu einem Leitbegriff der späten 60er und der 70er Jahre. In der Politikwissenschaft meint Demokratisierung (englisch:
democratization)
vor allem den Ãbergang von diktatorischen oder autoritären in liberaldemokratische Regime, mit der sich die «Transformationsforschung» beschäftigt. Das meinten die Reformer von damals nicht; es ging vielmehr darum, schon existierende Demokratien um neue Formen der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern zu erweitern; es ging um die «Demokratisierung der Demokratie» (Claus Offe). Damit war eine Geringschätzung der klassischen Demokratie â von Parlament und Parteienpluralismus, von Rechtsstaat und bürgerlichen Freiheitsrechten â in aller Regel nicht verbunden. Aber Parlament und Parteien reichten nicht mehr aus; und Rechtsstaat und Freiheit sollten sich in mehr direkter Bürgerbeteiligung realisieren.
Demokratie lieà sich damit nicht mehr auf den Raum der politischen Ordnung beschränken. Sie sollte auf «alle Lebensbereiche», wie es damals oft hieÃ, ausgeweitet werden. Diese Idee war nicht ganz neu; zumal für die Wirtschaft, für die Verfassung der Betriebe knüpfte sie an die «Wirtschaftsdemokratie» des frühen 20. Jahrhunderts an. Sie unterschied sich aber deutlich von Joseph Schumpeters Minimaldefinition der Demokratie als Mechanismus der freien Rekrutierung politischer Führung auf Zeit. Jenseits der sozialistischen Tradition klang eher John Deweys «democracy as a way of life» an, und darauf ebenso wie auf eine (vermeintlich) durch und durch demokratisierte amerikanische Gesellschaft beriefen sich Fürsprecher dieses Konzepts in der Bundesrepublik wie der Pädagoge Hartmut von Hentig. Als Altphilologe nahm Hentig auch das klassische Athen als Muster in Anspruch, wo die Demokratie gleichfalls eine umfassende bürgerliche Lebensformund nicht nur eine Ordnung politischer Prozeduren und Ãmter gewesen sei.
So nahmen sich die Westdeutschen ihre Lebensbereiche und institutionellen Ordnungen vor und
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