Was ist Demokratie
versuchten sie mit den neuen MaÃstäben in Einklang zu bringen. Ein neues Betriebsverfassungsgesetz (1972) und das Mitbestimmungsgesetz (1976) erweiterten die schon 1951/52 in der Montanindustrie eingeführten Einflussmöglichkeiten der Arbeitnehmer auf andere gröÃere Unternehmen. Kirchen, Verbände, schlechthin alle Säulen der gesellschaftlichen Selbstorganisation hatten in der Bundesrepublik der 70er Jahre ihre eigene Demokratisierungsdebatte und erlebten den Abbau von Hierarchie und den Ausbau von Wahlen und Vertretungsorganen. Bis in den privaten Raum wirkte der Impuls zu einer sinngemäÃen Ãbertragung des Staatsbürgerprinzips und der repräsentativen Demokratie. Psychologen wie der Amerikaner Thomas Gordon plädierten für nicht-hierarchische Entscheidungsfindung und partizipative Methoden auch in der Familie. Statt des autoritären Vaters sollte jetzt der Familienrat unter Einschluss der minderjährigen Kinder entscheiden. Gordons Ratgeber «Familienkonferenz» erschien 1972 in deutscher Ãbersetzung; fünf Jahre später waren in zehnter Auflage 200.000 Exemplare gedruckt.
Unumstritten aber blieb diese Dynamisierung und Erweiterung nicht. Die groÃen Schlachten wurden im Gefolge der Studentenbewegung schon am Ende der 1960er Jahre um die Demokratisierung der Universität geschlagen. Die sehr traditionell und hierarchisch strukturierte deutsche Ordinarienuniversität bot dafür eine besonders groÃe Angriffsfläche, erst recht wenn sich «unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren» versteckte, also NS-belastete Hochschullehrer weiter amtierten und über ihre Vergangenheit schwiegen. Viele jüngere Professoren sympathisierten im Prinzip mit den Zielen der Studenten und des akademischen Mittelbaus, wurden aber durch den rasch zunehmenden Radikalismus und die illiberale Gesinnung einer kleinen Minderheit zu Kritikern. Ãltere wie Theodor W. Adorno in Frankfurt und Ernst Fraenkel in West-Berlin, die als Juden und Linke vor der Nazi-Verfolgung hatten fliehen müssen und dennoch in die Bundesrepublik zurückgekehrt waren, fühlten sich durch das Auftreten der protestierenden Studenten an die frühen 1930er Jahre erinnert. Zuerst gab es eine Phase der radikalen Experimente, in der manche wie der Hamburger SDS in seinem Entwurf für ein Hochschulgesetz von 1968 den Unterschied zwischen Lehrenden und Lernenden abschaffen wollten: Erst wenn dieserGegensatz nicht mehr bestehe, sei der «Demokratisierungsprozess realisiert». Danach, in den 1970er Jahren, führte die Demokratisierung der Hochschulen in die von den verschiedenen «Statusgruppen» beschickte «Gruppenuniversität», die in dieser Ausprägung international einzigartig ist. Auch das kann man als eine Ãberkompensation des traumatischen Demokratieverlusts von 1933 interpretieren.
Liberal-konservative Politikwissenschaftler wie der Freiburger Wilhelm Hennis mokierten sich früh über den «Generalanspruch» auf Demokratisierung als einen Modetrend, der sich grundsätzlich überhaupt nicht einlösen lasse. Mitbestimmung, mehr Mitsprache, Auflösung von Hierarchien in Schulen und Universitäten, Unternehmen und Krankenhäusern â all das sei gar kein Problem und oft sogar sehr wünschenswert. Es habe nur mit Demokratie nichts zu tun, denn diese sei ein fundamental politisches Prinzip, das sich auf andere Lebensordnungen und Institutionen gar nicht übertragen lasse. Wie Hentig berief sich auch Hennis dabei auf den klassischen Politikbegriff, auf die Bestimmung des Menschen als «politisches Wesen» bei Aristoteles, und auf die ungleiche Natur des Menschen. AuÃerhalb der Politik ergaben die demokratischen Prinzipien der Freiheit und der Gleichheit, erst recht der Repräsentation, deshalb gar keinen Sinn. Damit markierte er von der anderen Seite eine Extremposition der Verteidigung klassischer Demokratie, die der Realität seit den 1970er Jahren ebenso wenig standhielt wie der radikale Anspruch auf Egalität und Enthierarchisierung.
Auf lange Sicht behielt Hennis durchaus Recht â die Ordnung der politischen Freiheit ist der besonders ausgezeichnete Ort der Demokratie, mit dem andere Lebensbereiche nicht ohne weiteres gleichgestellt werden können, und den sie erst recht nicht ersetzen oder aufwiegen können. Aber die Erweiterung der Grenzen klassischer Demokratie war nicht mehr aufzuhalten oder rückgängig
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