Was ist Demokratie
Ordnungen â freie Wahlen, Parlament, Gewaltenteilung usw. â, die es zu erfüllen und danach als einen Schatz zu hüten gelte. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts geht die Entwicklung der Demokratie aber immer weniger in einer solchen «Erfüllungsgeschichte» auf, in Deutschland wie fast überall auf der Welt. Was man unter Demokratie versteht, wandelt sich weiterhin â und beschleunigt seit den 1980er Jahren, also etwa in der Spanne der letzten drei Jahrzehnte. Mit dem Wechsel von Regimen, von Verfassungsordnungen hat das wenig zu tun, deshalb lässt sich eine scharfe Zäsur nicht benennen. Und deshalb ist es bis heute schwierig, in diesen Veränderungen mehr als nur kleinere Irritationen eines ansonsten unerschütterlichen Standardmodells zu sehen. Aus vielen unterschiedlichen Quellen speist sich seit etwa 1980 eine tiefe Transformation der Nachkriegsdemokratie: Das Selbstverständnis des Staates hat sich ebenso gewandelt wie der Blick der Bürgerinnen und Bürger auf die demokratische Staatsordnung; verändert haben sich Organisationsmuster und Handlungsformen ebenso wie institutionelle Spielregeln â zum Beispiel die Rolle der Gerichte â und Mentalitäten. Politik vollzieht sich nicht mehr nur in Nationalstaaten und ihren Untereinheiten, sondern europäisch oder global; das Internet revolutioniert die Kommunikation mindestens so, wie zuletzt der Buchdruck im 16. Jahrhundert.
Darum fällt es schwerer als früher, als 1848 oder 1918 oder 1945, die neue, noch offene Gestalt der Demokratie auf einen prägnantenBegriff zu bringen, und erst recht, ihr mögliches Ziel ins Auge zu fassen. Das verunsichert viele Menschen, übrigens auch die Wissenschaftler und Experten, unter denen über die Zukunft der Demokratie alles andere als Einigkeit herrscht. Nicht wenige halten unerschütterlich an der optimistischen Erfüllungsgeschichte fest, nach der sich «die» Demokratie, als westliches Standardmodell, in immer neuen Regionen der Welt schlieÃlich durchsetzt. Sie können auf die groÃe europäische Wende von 1989 verweisen, aber auch auf die Demokratisierung Lateinamerikas in den letzten zwei Jahrzehnten, und jüngst auf die Demokratiebewegung und den Sturz von Diktaturen im «arabischen Frühling» von 2011. Andere zeichnen ein eher düsteres Bild, wonach die Demokratie gerade in den westlichen Ländern ihren historischen Höhepunkt überschritten habe und unter dem Druck von Neoliberalismus und globalem Kapitalismus innerlich zerbrösele, bis nur eine äuÃere Fassade übrig sei. Beide Perspektiven drohen die vielgestaltige Transformation zu übersehen, die den Begriff der Demokratie verändert und ihre konkrete Praxis unter Druck gesetzt und gefährdet, aber auch um zahlreiche neue Facetten erweitert hat. Viel spricht dafür, dass unsere Nachfahren nicht auf den Anfang vom Ende der Demokratie zurückblicken, wenn sie sich mit den Jahrzehnten um 2000 beschäftigen, sondern auf eine turbulente Zeit der Neuerfindung, aber auch des Abschieds von der Eindeutigkeit des repräsentativ-elektoralen Modells der Nachkriegszeit.
Die Suche nach der groÃen Ãberschrift für diesen Wandel wird weitergehen. Der Begriff der «Zivilgesellschaft» könnte dabei einen zentralen Platz einnehmen. In den 1980er Jahren tauchte er in vielen Ländern, in Osteuropa ebenso wie in Westeuropa, auf und zielte auf eine vom Staat, häufig auch vom kapitalistischen Markt unabhängige Sphäre der gesellschaftlichen Selbstorganisation mit politischem Gestaltungsanspruch. Gegenüber den als immer übermächtiger empfundenen groÃen Systemen der bürokratisch-professionellen Politik und des dynamisierten Kapitalismus erinnerte die Zivilgesellschaft an die Selbstregulierung eines freien bürgerlichen Lebens als einer Alternative, oder mindestens einer Ergänzung, zu den wachsenden subjektiven Erfahrungen der Fremdbestimmung. Es geht dabei nicht um den Rückzug in eine bequeme Nische; alle Entwürfe der Zivilgesellschaft teilen vielmehr den Impuls der politischen Partizipation. Zivilgesellschaft, aktives Engagement und Demokratie gehören immer eng zusammen. Das ist ein wichtiger Unterschied zu einer lange in Deutschland einflussreichenTradition, «Staat» und «Gesellschaft» einander gegenüberzustellen und dabei die Gesellschaft als eine unpolitische Sphäre zu denken.
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