Was ist Demokratie
beschrieb das schon am Ende der 1970er Jahre, hellsichtig und überscharf zugleich, als die «neoliberale Gouvernementalität». Insofern war der Appell an die Zivilgesellschaft auch der Versuch, diesem staatlichen Zugriff die soziale Selbstorganisation und Staatsfreiheit an der Basis entgegenzustellen.
Zugleich handelte es sich aber um eine erste Reaktion auf den radikalisierten Individualismus, den die kulturelle Revolution seit den 1960er Jahren im Westen forciert hatte. Gingen im Vorrang individueller Selbstverwirklichung, so fragten jetzt viele, nicht Zusammenhalt und moralische Verpflichtung für andere verloren, und damit auch wichtige Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie? Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Putnam brachte diese Entwicklung und ihre Gefahren auf das einprägsame Bild des «Bowling Alone»: Wo das Kegeln mit Familie und Freunden bisher Gemeinschaft gestiftet habe, drohe sich das bürgerliche Leben nun in Vereinzelung aufzulösen; «soziales Kapital» ging verloren, das eine Grundlage für politisches Handeln im Stadtviertel oder in der Gemeinde war. Schon zwei Jahrzehnte früher hatte Putnam die Grundlagen bürgerlichen Engagements in Italien untersucht und dabei groÃe Unterschiede zwischen Nord und Süd gefunden: Im Norden des Landes engagierten sich die Bürgerinnen und Bürger nicht nur viel mehr in Vereinen und Verbänden; auch die institutionelle Praxis der Demokratie war dadurch transparenter, bürgerfreundlicher und effektiver. In Süditalien dagegen fehlte eine Zivilgesellschaft weithin, in der Menschen sich horizontal, als gleiche Bürger, miteinander zur Verfolgung von Interessen vernetzten, denn hier bestanden vertikale Abhängigkeitsverhältnisse fort, Clanstrukturenund Klientelverhältnisse, die auch der Demokratie schadeten. Die Ursachen für diese Kluft reichten für Putnam bis in das Bürgerbewusstsein der norditalienischen Stadtrepubliken des Spätmittelalters zurück. An diesem Argument war vieles zu schematisch; und seit 1980 formierte sich im Süden Italiens in Vereinen, Initiativen, kulturpolitischen Gruppen und vielem mehr eine zivilgesellschaftliche Bewegung, die der des Nordens mindestens ebenbürtig war. Aber das unterstreicht eher die enge Wechselwirkung von bürgerlichem Aktivismus und Demokratie, die um die Jahrtausendwende kaum noch bestritten wurde. Aus dem Aschenputtel des Protests war innerhalb einer Generation eine zentrale Stütze der Demokratie geworden.
Dabei ist eine starke Zivilgesellschaft kein Allheilmittel für die Leiden der klassischen Demokratie. In ihrer Entwicklung der letzten Jahrzehnte sind vielmehr verschiedene Spannungslinien erkennbar. Das Verhältnis von Protest und Bürgerengagement zu repräsentativer Demokratie und Mehrheitsprinzip ist kompliziert. Artikulieren Bürgerinitiativen, Basisgruppen oder «Betroffene», die sich zu einer Demonstration zusammenfinden, ihre legitimen Interessen gegenüber dem Parlament, das dann entscheidet? Oder können sie Entscheidungen jenseits des Parlaments erzwingen, die das Mehrheitsprinzip unterlaufen und einer kleinen, aber aktiven und lautstarken Minderheit zu unverhältnismäÃigem Einfluss verhelfen? Diese Frage stellt sich umso schärfer, als die neuen Beteiligungschancen der Zivilgesellschaft sozial ungleich verteilt sind. Ãberall in den entwickelten Gesellschaften des Westens, in Deutschland ebenso wie in Italien oder den USA, sind es überwiegend Angehörige der gut gebildeten Mittelschichten, die sich engagieren oder organisieren, sei es für eigene Interessen im Wohnviertel oder in der Schule, sei es als Konsumenten, sei es für globale humanitäre Anliegen. Gewerkschaften und andere Interessenverbände sozial Schwacher aus der alten Industriegesellschaft haben dagegen an Stärke und Einfluss verloren.
Auch tritt die «Zivilgesellschaft» in ihren vielfältigen Formen dem demokratischen «Staat» mit einem wachsenden und nicht selten prinzipiellen Misstrauen gegenüber. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte fühlt man sich am Anfang des 21. Jahrhunderts manchmal an die Konfrontation von Staat und gesellschaftlicher Opposition in den 1830er und 1840er Jahren, in der Zeit des Vormärz, erinnert â allerdings war der Staat von damals keine Demokratie, sondern ein monarchisch-bürokratischer Obrigkeitsstaat. Wenn heute
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