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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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konnte diesen Bodengewinn nicht mehr rückgängig machen. In der mit dem «Runden Tisch» von 1988 beginnenden Transformation zur Demokratie brachen jedoch Fragen an das Selbstverständnis der Opposition und der zivilgesellschaftlichen Vision auf. Wenn damit eine Vielfalt von Positionen und Gruppierungen in offenen Konflikten gemeint war, konnte eine einheitliche Organisation wie die Solidarność dann unter demokratischen Vorzeichen diesem Bild noch entsprechen? Tatsächlich begannen die Vertreter der Solidarność politisch unterschiedliche Wege zu gehen; die Einheit der Opposition führte in einen Parteienpluralismus. Lech WałĘsa, der charismatische Gründer und Führer der Gewerkschaft, tat sich schwer, von dem Bild einer antistaatlichen, oder überstaatlichen, Zivilgesellschaft abzurücken. So kandidierte Walesa als parteiloser Kandidat für das Präsidentenamt,statt sich in das Konfliktgetümmel von Parteien und Parlament zu stürzen, und stilisierte sich damit als Vertreter eines moralischen Gemeinwohls, einer «ethical civil society». Andere wie der Historiker Bronisław Geremek vollzogen nüchterner den Übergang von der zivilgesellschaftlichen Opposition in Parteipolitik, Parlament und Regierungsämter; als Außenminister von 1997 bis 2000 führte Geremek sein Land in die NATO.
    Viel schwieriger ist es, dem westlichen Interesse an der Zivilgesellschaft auf die Spur zu kommen. Es erreichte in den 1990er Jahren einen ersten Höhepunkt, nährte sich aber aus unterschiedlichen kulturellen und politischen Wurzeln. Manche Wissenschaftlicher und Intellektuellen wie Andrew Arato, Timothy Garton Ash und Ralf Dahrendorf griffen die polnischen Impulse frühzeitig auf und machten sie in den USA und in Westeuropa bekannt. Die zivilgesellschaftliche Revolution von 1989 inspirierte auch die etablierten Demokratien und führte in kritische Selbstbefragung, wie es denn mit mutigem und wachem Bürgergeist im eigenen Lande bestellt sei. Ließ man sich nicht ebenfalls zu vieles vom Staat vorschreiben und regulieren? Diese Frage berührte sich mit den Impulsen der Protestbewegungen aus den 60er und 70er Jahren, die gegen den starken Staat, gegen die sozialtechnologische Steuerung der Gesellschaft angetreten waren und Demokratie «von unten» neu begründen wollten. An die Stelle des Marxismus der «Neuen Linken» traten um 1980 undogmatische Denkrichtungen wie der «Kommunitarismus» in der Sozialphilosophie. Führende Vertreter wie Michael Walzer, Charles Taylor oder Amitai Etzioni kritisierten die Zentralität des Individuums im Liberalismus und betonten stattdessen den moralischen Zusammenhalt von Bürgern als Grundlage von Gerechtigkeit und Demokratie.
    So liefen viele Fäden zusammen, in denen man aus heutiger Sicht eine Reaktion auf die Staatsexpansion der Hochmoderne sehen kann, die Konservative, Liberale und Linke im mittleren Drittel des 20. Jahrhunderts durchaus geeint hatte. Seit dem Ende der 1970er Jahre forderten globale wirtschaftliche Entwicklungen und die Doktrin des Neoliberalismus, von den USA und England ausgehend, das bisherige Verhältnis von Staat und Individuum heraus. Auch das keynesianische Sozialstaatsregime stieß in wachsenden Staatsschulden und mangelnder Effektivität an Grenzen. Darin konnte man eine Überforderung des Staates sehen, der Verantwortlichkeit an die Gesellschaft, an die einzelnen Bürgerinnen und Bürger zurückgeben sollte. Eine Konsequenz darauswar der Radikalindividualismus der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, für die eine «Gesellschaft» überhaupt nicht existierte. Das kommunitäre oder zivilgesellschaftliche Argument war dem aber genau entgegengesetzt: Gerade der expansive Staat hatte es den Individuen ermöglicht, sich aus der Nahverantwortung zurückzuziehen – sei es der sozialen Verpflichtung, sei es der Initiative, politische Probleme «vor Ort» in gemeinsame Hände zu nehmen. Und noch komplizierter: Der Neoliberalismus – sofern man dieses Schlagwort einmal akzeptiert – predigte keineswegs einfach den schwachen Staat und die radikalliberale Selbstversorgung der Einzelnen. Er beanspruchte vielmehr zugleich, zum Beispiel mit einer neuen Kultur der Leistung und der Integration von Außenseitern, einen regulierenden und kontrollierenden Zugriff auf die Bürger. Der französische Philosoph Michel Foucault

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