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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Lebenschancen in mehr sachbezogene und pragmatische Formen des Engagements. Die großen Themen fehlten nicht; zumal der Protest gegen den Bau von Kernkraftwerken fokussierte die Bewegung, und mancher Vorbehalt gegenüber Kapitalismus und autoritärem Staat lebte darin fort. Am Anfang jedoch standen lokal verwurzelte Ängste wie in Wyhl bei Freiburg, wo sich 1975 Bauern und Akademiker bei der Besetzung des Bauplatzes für das geplante Atomkraftwerk begegneten und verstehen lernten. Nicht die Überwindung des Systems stand auf der Tagesordnung, sondern die Verhinderung einer als existenziell empfundenen Bedrohung – und auch die Bewahrung einer gewohnten Lebenswelt. Denn in der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung gab es auch konservative Motive, die sich mit einer neuen, kultur- und wachstumskritisch gewordenen Linken amalgamierten.
    Die ökonomische Dauerkrise seit 1973/74 beschleunigte weltweit einen kulturellen Umbruch, in dem die technokratischen Phantasien der Hochmoderne ebenso an ihr Ende kamen wie der revolutionäre Utopismus. Die im berühmten Bericht für den «Club of Rome» schon 1972 beschworenen «Grenzen des Wachstums» signalisierten den Übergang zu einem neuen Denkstil, dem Paradigma der Ökologie. Es ging dabei nicht nur um saubere Luft im Ruhrgebiet oder den Schutz bedrohter Pflanzen in Bayern, sondern um ein ganz neues Verhältnis zu den natürlichen Lebensgrundlagen, zur «Umwelt», die nicht mehr bloß instrumentell für das materielle Wohlergehen der Menschen dienen sollte. Man engagierte sich nicht primär für eigene Interessen, zumal materielle Interessen wie höhere Löhne oder kürzere Arbeitszeit, sondern nahm für sich in Anspruch, Sachwalter übergeordneter Ziele zu sein, und Schutzanwalt einer belebten wie unbelebten Natur, die nicht für sich sprechen konnte und in der Demokratie bisher keine Stimme hatte. Insofern trieb die Umweltbewegung seit den 70er Jahren das Modell einer «treuhänderischen Demokratie» entscheidend voran: also des Engagements für etwas Anvertrautes, für das man zeitweise die Verantwortung übernahm, auch im Namen nachfolgender Generationen. «Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt», plakatierte die gerade sich formierende Partei der «Grünen» zu den Europawahlen 1979. Einflussreiche intellektuelle Grundierung lieferte im selben Jahr Hans Jonas mit seinem «Prinzip Verantwortung» – auch er übrigens ein jüdischer Emigrant, der 1933 nach London und weiter nach Palästina gegangen war.
    Im folgenden Jahr verabschiedeten die westdeutschen Grünen ihr erstes bundesweites Parteiprogramm, in dessen Präambel das Motiv einer demokratischen Erneuerung eine zentrale Rolle spielte. Die Partei verstand sich als Partner einer «neuen demokratischen Bewegung», deren Spektrum von Bürgerinitiativen zur Frauenbewegung, von Naturschutzgruppen bis zur Friedensbewegung reichte. Diese Bewegung habe sich gegen die «Zerstörung der Lebens- und Arbeitsgrundlagen» erhoben – das war das neue, ökologische Motiv – und gegen den «Abbau demokratischer Rechte» – darin wirkten eher die Ängste der 60er Jahre, der gewerkschaftliche und der marxistische Diskurs fort. An vier Grundsätzen wollte sich die Partei orientieren: «ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei». Basisdemokratie sollte «dezentrale, direkte Demokratie» verstärkt verwirklichen. Dabei war an klassische Elemente der plebiszitären Demokratie gedacht wie Volksabstimmungen,aber auch an eine Art Subsidiaritätsprinzip der politischen Entscheidungsfindung: Die «Basis» sollte Vorrang haben, Orts- und Kreisebene möglichst Autonomie gegenüber den höheren Einheiten des Landes und des Bundes genießen. Aus älteren Konzepten der radikalen Demokratie war auch der Gedanke vertraut, Amts- und Mandatszeiten zeitlich strikt zu begrenzen und die Gewählten einer scharfen Kontrolle und Rechenschaftspflicht, einschließlich ihrer «jederzeitigen Ablösbarkeit», zu unterwerfen. Parlamentarismus war nicht die ganze Demokratie, aber die Grünen ließen keinen Zweifel an ihrer Achtung der repräsentativen Wahldemokratie und der liberalen Grund- und Freiheitsrechte. Sie beanspruchten emphatisch, eine Partei «neuen Typs» zu sein, die sich von den «etablierten Parteien» fundamental unterschied, ordneten sich damit

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