Was ist Demokratie
nicht unmittelbar dazu rechnet. Die Entspannungspolitik im Kalten Krieg hatte 1975 mit der Schlussakte der «Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (KSZE) in Helsinki auch Staaten des Ostblocks auf die Achtung von Grundfreiheiten und Menschenrechten verpflichtet. Auf diesen «Korb 3» von Helsinki begannen sich bald Dissidenten und Bürgerrechtler zu berufen, zum Beispiel in der tschechischen Gruppe «Charta 77» um Václav Havel. Die tschechischen und polnischen Intellektuellen verliehen der demokratischen Bewegung in Osteuropa ein besonderes Gepräge, ebenso wie der Arbeiterprotest in Polen und dieGründung der «SolidarnoÅÄ» 1980. In beidem klangen klassische ebenso wie neue Motive der Demokratie an: klassische, weil es um elementare Freiheitsrechte und politischen Pluralismus ging, also um das, was Jürgen Habermas später für die DDR als «nachholende» Revolution bezeichnete; neue Motive, weil man sich dabei nicht einfach auf den Standpunkt von 1945 stellte, sondern Demokratie weiterzudenken versuchte. Dazu griffen die Oppositionellen Impulse aus den westlichen Protestbewegungen auf, denen sie zugleich eigene Anregungen zurückgaben, etwa mit ihren Vorstellungen von Zivilgesellschaft.
Die Bürgerbewegung in der DDR, der sozialistischen Halbnation mit ihrer engen Bezogenheit auf die Bundesrepublik, war erst recht Teil dieser demokratischen Verflechtungsgeschichte. Und das Streben nach der klassischen westlichen Nachkriegsdemokratie geriet in ihr zeitweise sogar in ein besonders markantes Spannungsverhältnis zur Sehnsucht nach neuen Formen einer demokratischen Gesellschaft. Seit der Mitte der 1980er Jahre, ermuntert durch Gorbatschows Politik von Offenheit und Umbau, von Glasnost und Perestroika, formierte sich die Opposition in der DDR als Bewegung für Menschenrechte und Demokratie. Sie sammelte sich vor allem in gröÃeren Städten wie Berlin, Leipzig oder Jena, und besonders im Milieu der evangelischen Kirche, unter dem Schutz ihrer Räume und ihrer relativen Unabhängigkeit von Staat und Partei. Jugendliche und junge Erwachsene drückten ihre Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der DDR aus, doch schrieben sie nicht die Einführung des westdeutschen Grundgesetzes in ihre Forderungen. Vielmehr sympathisierten sie mit jenen, die in der Bundesrepublik zu den Kritikern ihrer eigenen Gesellschaft gehörten und sich für Veränderung engagierten: mit den Bewegungen für Umwelt, Frieden und globale Menschenrechte, die Anfang der 1980er Jahre im Nachrüstungsstreit groÃen Auftrieb erhalten hatten und politisch oft in der Partei der Grünen eine neue Heimat fanden.
Seit 1980 fand die Friedensbewegung in der DDR mit «Schwerter zu Pflugscharen» ein wirksames Motto und Symbol. Die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl im April 1986 setzte Umweltfragen in West und Ost mit neuem Nachdruck auf die Tagesordnung; zu einem Zentrum der ostdeutschen Aktivitäten wurde die im September gegründete Umweltbibliothek an der Berliner Zionskirche. Die von ihr herausgebrachten «Umweltblätter» oder die «radix-blätter» verbreiteten Informationen, knüpften Netzwerke und bildeten damit eine Gegenöffentlichkeit zur Welt der SED. Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechtewaren die Schlüsselbegriffe der Bürgerbewegung in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Das zielte auf eine grundlegende Veränderung der DDR, aber noch nicht auf ihre Sprengung. Dafür gibt es mindestens drei Gründe: Das kapitalistische Wirtschaftssystem der Bundesrepublik schien vielen nicht erstrebenswert; die Frage einer ganz anderen politischen Verfassung stellte sich einstweilen gar nicht; und mit den Zielen Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte konnte man den eigenen Staat in die Pflicht nehmen, der sich dazu ja ebenfalls, wenngleich in marxistisch-leninistischer Sichtweise, bekannte.
Im Frühherbst 1989 öffnete sich rasch ein Fenster zu einer offeneren Formulierung von Zielen, und nicht zuletzt auch zum offenen organisatorischen Zusammenschluss. Die Opposition trat aus den Wohnzimmern, Kirchen und versteckten (gleichwohl von der Staatssicherheit oft infiltrierten) Netzwerken heraus. Am 9. September 1989 rief das «Neue Forum» mit seiner Gründung die Bürgerinnen und Bürger der DDR zu einer «Umgestaltung unserer Gesellschaft» auf, die sich an dem «Wunsch nach
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