Was ist Demokratie
dem Aufstieg des «Front National» in Frankreich oder der österreichischen FPà unter der Führung Jörg Haiders. Die demokratische Revolution im bisher kommunistischen Teil Europas unterstrich die unmittelbare Souveränität des Volkes; zivilgesellschaftliche Mobilisierung sollte in die neue staatliche Organisation überführt werden. Jedoch legten nur einige der neuen Demokratien, wie Lettland und Litauen, gröÃeren Wert auf direkt-demokratische Elemente in ihren Verfassungen; das klare Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie war die Regel. Auch die fortschreitende europäische Einigung bot Anlass für Volksabstimmungen, da sie Grundsatzfragen nach der Souveränität aufwarf, die nach Ãberzeugung vieler Länder nicht nur im Parlament entschieden werden konnten. In jüngster Zeit hielten sogar die Briten, zum ersten Mal überhaupt, ein vollgültiges Referendum ab, denn die Abstimmung über die Mitgliedschaft in der EG im Juni 1975 hatte nur eine schon getroffene Entscheidung bestätigt. Am 5.Mai 2011 entschied sich, bei einer Beteiligung von gut 40 Prozent, eine Zweidrittelmehrheitfür die Beibehaltung des bisherigen Mehrheitswahlrechts zum Unterhaus, also für das Prinzip «first past the post», bei dem eine relative Mehrheit ausreicht, um einen Parlamentssitz zu gewinnen. Mithilfe der direkten Demokratie stärkten die Wählerinnen und Wähler auf diese Weise die repräsentativ-wettbewerbliche Demokratie und ihren Mehrheitsmechanismus.
Auch das zeigt: Die unbestreitbaren Tendenzen zur direkten Demokratie der beiden letzten Jahrzehnte blieben insgesamt begrenzt. Deutschland ist dafür durchaus typisch. Im Bund blieben Versuche, Volksbegehren und Volksentscheid mittels einer Grundgesetzänderung einzuführen, erfolglos. Direkte Demokratie ist hier weiterhin auf die beiden Sonderfälle beschränkt, welche schon 1949 vorgesehen waren: die Neugliederung des Bundesgebietes â darüber stimmten die Badener und Württemberger im Dezember 1951 ab, die Berliner und Brandenburger 1996 â und die Entscheidung für eine ganz neue Verfassung, die Art. 146 GG vorsieht. In den Ländern jedoch sind die Instrumente direkter Demokratie ausgebaut worden und seit 1998 in allen sechzehn Verfassungen verankert. In einem dreistufigen Verfahren können Bürgerinnen und Bürger zunächst den Antrag auf ein Volksbegehren betreiben, ihm folgt das Volksbegehren, mit dem das Parlament aufgefordert wird, sich dieses Begehren zu eigen zu machen. Lehnt das Parlament ab, besteht die Möglichkeit zu einer allgemeinen Abstimmung im Volksentscheid, der dann verbindlichen Charakter hat. (Man spricht dann von einem «dezisiven», also entscheidenden, und nicht bloà «konsultativen», also beratenden, Plebiszit.) Ãhnlich ist die direkte Demokratie auf der kommunalen Ebene gestaltet, mit dem Bürgerbegehren und dem Bürgerentscheid.
Nicht nur der Rahmen der direkten Demokratie hat sich damit etwas erweitert; es wird auch häufiger von ihr Gebrauch gemacht â insgesamt aber doch in moderatem Umfang. Eine direkt-demokratische Revolution hat in den letzten Jahrzehnten nirgendwo stattgefunden und ist auch nicht zu erwarten, selbst wenn vieles für ihre anhaltende Konjunktur in den öffentlichen Debatten spricht. Neben viel Begeisterung steht auch Skepsis, etwa wenn Referenden von populistischen Parteien instrumentalisiert werden â oder schlichtweg eine Mehrheitsmeinung unverstellt zum Ausdruck bringen, die in der repräsentativen Demokratie vermutlich «ausgefiltert» worden wäre. So hat die Schweizer Volksabstimmung über das Minarett-Verbot im November 2009 auf der ganzen Welt für Aufsehen gesorgt, und für nicht wenige die Vorzügeparlamentarischer Entscheidungsverfahren verdeutlicht. Der wichtigere Grund dafür, dass die direkte Demokratie â im engeren Sinne von Initiative und Referendum verstanden â nicht noch mehr in den Vordergrund gerückt ist, liegt jedoch im Wandel der Demokratie selber. Volksabstimmungen sind nicht mehr die einzige Alternative, oder Ergänzung, zur parlamentarischen Repräsentation. «Direkte» Aktivität von Bürgerinnen und Bürgern artikuliert sich in vielen anderen Formen. In diesem erweiterten Sinne nähert sich die Bedeutung von «direkter Demokratie» inzwischen dem an, was auch Bürgerbeteiligung oder
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