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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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Nation als ein «tägliches Plebiszit». Die Nation als Bekenntnis aller zu einer Gemeinschaft: Damit stellte er sich zwar gerade gegen eine biologische oder «rassische» Definition, aber unserem Verständnis einer pluralistischen und heterogenen Gesellschaft entspricht das nicht.
    Manche Wissenschaftler, ebenso wie politische Befürworter direkter Demokratie, unterscheiden zwischen einer Kontrolle «von oben» im Sinne einer Mobilisierung des möglichst homogenen Volkes einerseits und der Initiative «von unten», zum Beispiel aus gesellschaftlichem Protest, andererseits. Im ersten Fall wäre dieselbe Volksabstimmung plebiszitär, im zweiten Fall Ausdruck direkter Demokratie. Doch lässt sich diese Unterscheidung kaum aufrechterhalten, jedenfalls nicht in Demokratien, wo die Organe der repräsentativen Verfassung und Gewaltenteilung – das Parlament, die Regierung, auch die Gerichte – in die gesellschaftliche Aushandlung von Volksabstimmungen oft unmittelbar einbezogen sind. Zugleich meint direkte Demokratie seit den 1970er Jahren mehr und anderes als die alte Volksversammlung und die neuere Volksabstimmung. Sie ist zu einem Oberbegriff für Verfahren der direkten Bürgerbeteiligung geworden, für die Öffnung der repräsentativen zur partizipatorischen Demokratie, und kann damit auch eine Bürgerinitiative oder Demonstranten auf der Straße umfassen.
    Im Rückblick auf die letzten zweihundert Jahre sieht man eine Wellenbewegung, in der Phasen von Konjunktur und Flaute direkter Demokratie sich abwechselten. In den lebhaften Debatten des 18. Jahrhunderts schien das Modell obenauf, trat mit dem Siegeszug der repräsentativen Demokratie aber während beinahe des gesamten 19. Jahrhunderts in den Hintergrund. In der Schweiz regte sich seit den 1860er Jahren ein neuer Anfang, der um 1900 als Vorbild angeführt wurde, als in vielen Ländern ein lebhaftes Interesse an der direkten Demokratie erwachte, besonders in Amerika. Während dort Verfahrenwie Volksinitiative und Volksabstimmung in die Verfassungen der westlichen Staaten aufgenommen wurden, experimentierte Europa in der sozialistischen Tradition mit ganz anderen Formen direkter Beteiligung, nämlich der Rätedemokratie. Die antidemokratische, illiberale Verführbarkeit des Volkes in den totalitären Diktaturen drängte die direkte Demokratie nach 1945 beinahe ganz an den Rand. Seit den 1970er Jahren jedoch steigt das Interesse an ihr wieder: Parlamentarisch-repräsentative Verfahren einschließlich der Interessenorganisation in Parteien zeigten Ermüdungserscheinungen; soziale Bewegungen drängten, durchaus mit Erfolg, auf die Einführung oder Verstärkung direkt-demokratischer Elemente. Dieser Aufschwung hält auch im frühen 21.Jahrhundert noch an; er ist seit etwa 1990 sogar noch dynamischer geworden, zum Teil als Folge der ostmitteleuropäischen Demokratisierung.
    Die bis heute wohl wichtigste und folgenreichste Bewegung für direkte Demokratie, wenn man von der Schweiz absieht, veränderte am Anfang des 20. Jahrhunderts das politische System der USA. Sie war Teil der «progressiven» Reformen, einer vielschichtigen, vor allem von den gebildeten Mittelklassen in den Städten getragenen Strömung, die man als Reaktion auf den Siegeszug des industriellen Kapitalismus und seiner Organisationsformen verstehen kann. Die «Progressives» versuchten einerseits, wirtschaftliche Prinzipien wie Effizienz und Rationalität auch in die Politik zu tragen, der sie Intransparenz und Korruption vorwarfen. Die Macht der abgeschotteten, sich gegenseitig Vorteile zuschusternden «Parteimaschinen» in den Metropolen und bei der Kandidatenaufstellung für Parlamente sollte gebrochen, korrupte Politiker sollten zu Fall gebracht werden können. Deshalb nahm die Einführung der «Recall Election», der Abwahl eines Politikers durch Volksinitiative, auf der progressiven Agenda einen wichtigen Platz ein und führt bis heute gelegentlich auch zur Abwahl eines Gouverneurs. (Davon unterscheidet sich das «Impeachment» zweifach: als parlamentarisches Verfahren und als Verfolgung von Gesetzesverstößen.) Dieses Instrument einer «negativen» Demokratie erinnert durchaus an den athenischen Ostrakismos.
    Andererseits nahmen die progressiven Reformer, unter ihnen übrigens viele Frauen, sozialreformerische und partizipatorische Impulse auf. Es

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