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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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prozeduralen Verständnis von Demokratie: Das Verfahren gewinnt an Bedeutung gegenüber den Institutionen, sei es als Prozess der vernünftigen Konsensfindung oder des machtgeprägten Konfliktes. Beide greifen Veränderungen in Gesellschaft und Politik während der letzten Jahrzehnte auf, in denen die Demokratie enthierarchisiert wurde und das elektoral-repräsentative Modell seine unangefochtene Vormachtstellung verlor. In beiden Konzepten vollzieht sich Demokratie vorrangig partizipatorisch, in einer aktivbürgerschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Arena der freien Meinungsäußerung, der lebhaften Debatte und der Rechenschaftspflicht demokratischer Herrschaftsträger auf Zeit.
6 Stachel oder Alternative?
Die Rückkehr der direkten Demokratie
    Die Sehnsucht nach der möglichst unmittelbaren Herrschaft des Volkes begleitet die Geschichte der modernen Demokratie seit über zweihundert Jahren. Im klassischen Athen war es der Normalfall, dass die Bürger ihre Angelegenheiten durch persönliche Anwesenheit in der Volksversammlungentschieden. Zwar fürchteten viele schon damals die Unberechenbarkeit der direkten Demokratie, aber ihre Alternative war nicht eine andere Organisationsform für die Volksherrschaft; die Skeptiker wollten vielmehr die Demokratie durch monarchische oder aristokratische Herrschaft ersetzen oder zumindest einhegen. Das Spannungsverhältnis der direkten zur repräsentativen Demokratie entstand deshalb erst am Ende des 18.Jahrhunderts, zwischen später Aufklärung und den Revolutionen in Amerika und Frankreich, als es um die demokratische Verfassung flächenstaatlicher Republiken ging und sich dabei das Modell der parlamentarischen Repräsentation des Volkes durchsetzte. Damit schien eine endgültige Entscheidung gefallen, aber die direkte Demokratie wirkte seitdem immer wieder als Stachel im Fleisch der repräsentativen, und seit den 1970er Jahren ist daraus ein mächtiger historischer Trend geworden.
    Was «direkte Demokratie» heißt, lässt sich dabei gar nicht so leicht sagen. Der Begriff überlappt sich mit verwandten wie der «plebiszitären» Demokratie und hat seinen Bedeutungshorizont mehrfach verändert. Im 18. Jahrhundert bedurfte es überhaupt keines Adjektivs, denn Demokratie meinte ausschließlich die unmittelbare Entscheidungsgewalt der versammelten Bürger in den wichtigen politischen Sachfragen; Repräsentation war also keine Demokratie. In manchen radikalen Positionen schwingt dieses Erbe bis heute mit. Überwiegend sind die Ansprüche aber bescheidener – oder realistischer – geworden, denn heute versteht man unter direkter Demokratie meist nicht eine voll ausgebildete Verfassungsordnung, sondern eher eine Teildimension moderner Demokratie. Es wird «mehr direkte Demokratie» gefordert, aber nicht die Ersetzung des repräsentativen Systems durch sie. Alle Bürgerinnen und Bürger physisch zu versammeln und entscheiden zu lassen ist jenseits lokaler Horizonte unmöglich, deshalb zielt der Begriff auf die Entscheidung durch Volksabstimmungen, auch auf die unmittelbare Wahl von Amtsträgern der Exekutive oder der Verwaltung durch das Volk: die Wahl des Staatspräsidenten in Frankreich oder die Wahl einer lokalen Schulbehörde in den USA.
    Für solche Wahlen und für Abstimmungen des ganzen Volkes über Sachfragen spricht man aber auch von plebiszitärer Demokratie. Eine genaue Abgrenzung ist schwierig; jedenfalls sind Volksabstimmungen, also Plebiszite, gerade heute das zentrale Instrument der direkten Demokratie. Aber man nennt sie seltener so, und das aus historischem Grund. Denn in der «plebiszitären» Herrschaft schwingt etwas von autoritäremRegierungsstil und von einer konformistischen Gesellschaft mit, wie sie das frühere 20. Jahrhundert kennzeichneten, etwa im Deutschland der Weimarer Republik. Dann ist die Befragung des Volkes im Plebiszit ein Mittel der Herrschenden, seien sie nun demokratisch legitimiert oder nicht, sich der Zustimmung des Volkes zu vergewissern, oder noch schärfer: sich eine Bestätigung, eine Akklamation abzuholen. Plebiszitäre Demokratie, das transportiert also die Erinnerung an die vermeintliche Identität von Regierenden und Regierten, eine «identitäre» Demokratie, für die bis heute Jean-Jacques Rousseau der wichtigste Kronzeuge ist. Im Jahre 1882 definierte der Franzose Ernest Renan die

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