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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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schärfer zugespitzt: Es gibt offensichtlich keine moderne Demokratie ohne kapitalistische Marktwirtschaft. Das Gegenteil dagegen kommt häufig vor: Kapitalismus ohne Demokratie, in politisch autoritärer oder diktatorischer Verfassung – das Spektrum reicht von Deutschland während des Nationalsozialismus bis in das gegenwärtige China.
    Auch die Gegenrechnung lässt sich historisch aufmachen, und wiederum im doppelten Rückgriff auf Mentalitäten und Diskurse einerseits, soziale und politische Realkonflikte andererseits. In Konkurrenz zum Liberalismus, wenn auch niemals scharf von ihm abgegrenzt, fremdelte der «klassische Republikanismus» im 17. und 18.Jahrhundert mit der aufstrebenden Welt des Kommerzes und sah den guten, den freien politischen Bürger als Gegenentwurf zum liberalen «homo oeconomicus». Marktförmige Sozialbeziehungen und individuelles Gewinnstreben gefährdeten demnach das Gemeinwohl, und übertriebener Wohlstand, gar Luxus drohte den Blick des Bürgers vom Wohl desStaates abzulenken, ihn im Innern zu korrumpieren und unfrei zu machen. Nach dem Durchbruch der Industrialisierung spielte diese Sichtweise kaum mehr eine Rolle, aber sie tauchte am Ende des 20. Jahrhunderts in republikanischen Varianten der «Zivilgesellschaft» und im Kommunitarismus der Sozialphilosophie wieder auf. Stattdessen übernahm der Sozialismus um 1830 die intellektuelle, vor allem aber die praktisch-politische Führung im Versuch, Demokratie gegen den Kapitalismus zu etablieren: in seiner Überwindung oder doch zumindest in Regulierung und Zähmung. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zielte auf Freiheit und Demokratie, oft auch im «bürgerlichen» Sinne: auf die Ausdehnung des Wahlrechts und die Inklusion des Proletariats in die Staatsbürgergesellschaft, auf eine parlamentarische Regierung.
    Auf dieser Linie kann man eine Geschichte der Demokratie erzählen, in der die beginnende Revolutionierung von Wirtschaft und Gesellschaft Gegenkräfte mobilisierte. Gegen wachsende Ungleichheit stand das Verlangen nach Gleichheit; gegen den Freiheitsverlust in der kapitalistischen Lohnsklaverei das Streben nach Emanzipation und Selbstbestimmung, gegen die Machtkonzentration von Bürgertum und Adel die Forderung nach politischer Herrschaft des Volkes. Erfolge stellten sich mit dem Wegfall des Zensuswahlrechts ein, schließlich mit der Beteiligung von Arbeiterparteien an der Regierung. Auch andere Strömungen wirkten mit: die populistisch-demokratische Bewegung in den USA, christliche Parteien wie das deutsche Zentrum und nach 1945 CDU und CSU, überhaupt die katholische Soziallehre; auch sozial gesinnte Konservative. Im Ausbau des Sozial- und Interventionsstaates in den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, auch in Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer wurde der Kapitalismus demokratisch gebändigt, bis er sich – so wäre jedenfalls eine skeptische Lesart dieser Geschichte – am Ende der 1970er Jahre wieder von den demokratischen «Fesseln» zu befreien begann.
    Lange Zeit war auch eine mittlere Strömung sehr einflussreich: angesiedelt zwischen der liberalen Beinahe-Identität von Demokratie und Kapitalismus einerseits, der demokratischen Zähmung von Markt und Ungleichheit andererseits. Im 19. Jahrhundert nämlich identifizierten sich große Teile der Gesellschaft – Handwerker und kleinere Händler, kleine und mittlere Bauern – durchaus mit den neuen marktförmigen und kommerziellen Strukturen und sahen darin die Chance für eine freiere politische Ordnung. Aber sie fürchteten die Konzentration vonReichtum und Macht in einer kleinen Spitzengruppe von Unternehmern, von Industriellen, Großhändlern und Großgrundbesitzern als Gefährdung ihrer eigenen Stellung am Markt und als Bedrohung für eine politisch freie Gesellschaft. In Deutschland folgte der frühe Liberalismus einem solchen Ideal der «klassenlosen Bürgergesellschaft» mittlerer, selbstständiger Existenzen. Adel und Feudalismus waren genauso verpönt wie die zu neuem Reichtum gekommenen «Geldsäcke» in Handel und Industrie, aber auch vom mittellosen Pöbel grenzte man sich ab. In der frühen Arbeiterbewegung lebte das Leitbild einer produzierend-demokratischen Gesellschaft noch bis etwa in die 1870er Jahre fort.
    In den USA dagegen, wo der Sozialismus, erst recht in seiner marxistischen Spielart,

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