Was ist Demokratie
Kommunismus spielte der Hinweis auf westliche Gleichheit im Wohlstand eine wichtige Rolle auch für die Rechtfertigung der Demokratie.
Dieses Bild war schon vor 1989 brüchig geworden. Denn das Ende der alten, fordistischen Industriegesellschaft produzierte eine neue Unterschicht der Arbeitslosen, prekär Beschäftigten und Dienstleistungsarmen, während am oberen Ende der sozialen Leiter die Einkommen, und noch mehr die Vermögen, überproportional wuchsen. Etwas später, und durch sozialstaatliche MaÃnahmen mehr abgefedert, zeigte sich derselbe Trend in Westeuropa, auch in Deutschland â hier überlagert und verstärkt durch den Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft und die sozialen Effekte der Wiedervereinigung. Erst recht sind die globalen Unterschiede zwischen Reich und Arm nicht verschwunden, sondern zum Teil auch in der Globalisierung gewachsen; vor allem in Afrika und in Teilen Asiens kommen Hunderte von Millionen Menschen nicht aus bitterster, existentieller Armut heraus, während die entwickelte Welt der OECD-Staaten wohlhabender geworden ist. Solche Ungleichheit fordert auch die Demokratie heraus: Verwandelt sich Reichtum in politische Macht, so dass statt dem Volk in Wirklichkeit die Besitzenden mit ihrem Geld herrschen, in einer Plutokratie? Ausschluss aus sozialen Chancen führt oft in politische Frustration und Apathie; die Wahlbeteiligung und auch andere Formen des Engagements sind in der ärmeren Bevölkerung überproportional zurückgegangen. Das Gefühl von Benachteiligung und Ungerechtigkeit übersetzt sich zudem in politische Proteste, also in einen demokratischen Aktivismus, der zugleich die demokratischen Regierungen zur Verantwortung zieht.
Aber ist soziale Gleichheit â oder doch: die Minderung sozialer Ungleichheit â überhaupt ein Ziel der Demokratie, oder ihre Voraussetzung? Im Zentrum der Demokratie steht die Freiheit: als individuelle Freiheit und als Freiheit der Selbstregierung. Doch der Anspruch auf Gleichheit ist fest mit dieser Freiheit verwoben. In der athenischen Demokratie konnten die Bürger ihre politischen Angelegenheiten nur unter Anerkennung ihrer Gleichheit, der «Isonomie», selber und gemeinsam regeln. Bis heute beruht Demokratie auf der «gleichen Freiheit»: Für alle Bürgerinnen und Bürger müssen die gleichen Freiheitsrechte gelten, die gleichen Chancen zur Teilhabe an der Politik. Soziale Gleichheitvon Status, Einkommen oder Vermögen ist damit nicht gemeint. Aber die «gleiche Freiheit» ist auch mehr als die nur formale Zuerkennung von Rechten. Letzteres hätte den Ansprüchen des 19. und frühen 20.Jahrhunderts genügt. Seitdem jedoch sind die Erwartungen an die Demokratie gestiegen. Die formale Zuerkennung von Rechten â etwa des Wahlrechts â bleibt ein zentrales Kriterium, mindestens solange, wie solche Rechte irgendwo auf der Welt fehlen. Aber die Frage danach, unter welchen Bedingungen die Freiheit praktisch ausgeübt werden kann, lässt sich aus der demokratischen Debatte seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts nicht ausklammern.
Dass Demokratie unter Bedingungen sozialer Ungleichheit bestehen kann, ist nicht umstritten; es geht eher um das Maà von Unterschieden zwischen Reich und Arm, das eine Gesellschaft aushalten kann, ohne Verfahren und Selbstverständnis ihrer freien und gleichen Politik zu beschädigen. Empirisch gesehen, gibt es in demokratischen Ländern ein breites Spektrum von relativ gleichen bis zu sehr ungleichen Sozialordnungen. Sozialwissenschaftler drücken das mit quantitativen Indikatoren und Darstellungen aus, zum Beispiel mit dem «Gini-Koeffizienten» und der «Lorenz-Kurve». Dabei bestätigt sich, was auch der intuitiven Erfahrung entspricht: In den USA ist soziale Ungleichheit schärfer ausgeprägt als in Europa, und die skandinavischen Länder wie Schweden sind besonders egalitär. Auch die wachsende Ungleichheit der letzten Jahrzehnte lässt sich daraus erkennen. Viel krasser sind die sozialen Unterschiede aber in weniger entwickelten Ländern Asiens und in Lateinamerika. In Indien hat das die Stabilität der demokratischen Verfassung über mehr als ein halbes Jahrhundert nicht erschüttern können. In Lateinamerika ist der Abstand zwischen einer groÃen Mehrheit sehr armer Bevölkerung und einer kleinen Minderheit sehr Reicher traditionell groÃ, und erst langsam entsteht eine
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