Was ist Demokratie
Zivilgesellschaft weniger als ein Zwischenbereich verstanden, gleich weit entfernt vom Einzelnen und vom Staat, sondern eher als eine Veranstaltung vergemeinschafteter Individuen gegenüber dem Staat, als Kontrollinstanz und Stachel in dessen Fleisch. Diese Konstellation zieht sich wie ein roter Faden durch viele Aspekte der «neuen» Demokratie. Der demokratische Staat ist demnach weniger ein unmittelbarer Ausdruck der pluralistischen Gesellschaft, sondern ihr Gegenüber; in zugespitzter Sichtweise und Kritik auch: eine schon nicht mehr demokratische Herrschaftsordnung, die durch den gesellschaftlichen Protest «radikaler Demokratie» ständig herausgefordert werden muss, um Freiheitsspielräume noch zu wahren. In der neueren linken Theorie spricht man sogar von «insurgent democracy», von einer rebellischen oder aufständischen Demokratie, mit der sich Bürgerinnen und Bürger gegen einen Staat wehren, der selber durch den neoliberalen Kapitalismus seines demokratischen Gehalts beraubt sei.
Jedoch bleibt es dabei: Die «groÃe Erzählung» der jüngsten Demokratiegeschichte ist noch nicht gefunden. Die Politikwissenschaft bietet eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten für die neuen Entwicklungen an, von denen sich aber noch keiner recht durchgesetzt hat. In einer breiteren Ãffentlichkeit herrscht Unsicherheit, und weil die Begriffe fehlen, die Neues und Innovatives weithin sichtbar markieren könnten, blickt man auf das Bekannte, das Etablierte â und diagnostiziert dann mehr Verluste als Gewinne: den Rückgang der Wahlbeteiligung oder die Erosion der Volksparteien. Auch die Historiker haben die Geschichte der Demokratie noch nicht plausibel in die jüngste Gegenwart geführt, und gerade in Deutschland hat man â aus verständlichen Gründen â zu lange der Vorstellung von einem Aufholprozess angehangen, mit der die diktaturgeschädigten Deutschen in «der» Demokratie ankommen müssten.
Am weitesten verbreitet ist wohl der Begriff der «partizipatorischen Demokratie», der auf die vielfältigen Formen des unmittelbaren Bürgerengagements und der politischen Teilhabe an der Basis abhebt, jenseits der klassischen Rolle des Wahlbürgers. Damit ist die Zivilgesellschaft eng verknüpft; ohne einen Begriff von der vorstaatlichen politischen Bürgergesellschaft jedenfalls wird eine Beschreibung der postklassischen Demokratie nicht auskommen. Dabei kreist die neue Demokratie sehr wohl um politische Rechte, um politische Bürgerschaft, um politische Herrschaft. Damit hat sich eine Repolitisierungder Demokratie und des demokratischen Erwartungshorizontes vollzogen. Denn um 1970 ging man eher davon aus, dass nach der erreichten politischen Demokratie dasselbe formale Prinzip nun in andere Lebensbereiche â die Wirtschaft, die Bildung, die Religion, die Familie usw. â getragen werden müsse. Heute geht es weniger um die «Demokratisierung aller Lebensbereiche», sondern um die «Demokratisierung der Demokratie» (Claus Offe). Der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber hat, im Blick auf die neuen Formen der partizipatorischen Politik, schon 1984 von einer «starken Demokratie» gesprochen. Insofern nicht ein Aggregatzustand der Demokratie von einem anderen abgelöst worden ist, sondern Vielfalt und Ãberlagerungen von klassischer und neuer Demokratie die Wende zum 21. Jahrhundert bestimmen, könnte man auch von einer «multiplen Demokratie» sprechen.
Wenn sich die Geschichte der Demokratie, wie in der Einleitung dieses Buches vorgeschlagen, immer zugleich dreifach verstehen lässt: als Erfüllung von Erwartungen, als Suche nach neuen Möglichkeiten und als Krise in politischer Realität und Selbstreflexion, dann steht die bisher letzte Phase am ehesten unter der Ãberschrift einer Suchbewegung, eines Experimentierens mit unsicherem Ausgang. Die groÃen Erwartungen sind noch nicht überall auf der Welt, aber innerhalb der westlichen Länder erfüllt; diese Ãberschrift passt besser im 19. und früheren 20. Jahrhundert. Die groÃe Krise des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts ist überwunden; und wenn manche Intellektuelle heute wieder, wie damals, den Stern der Demokratie sinken sehen, spiegelt sich das, anders als damals, trotz manchen Missbehagens und lebhafter Kritik nicht in den Einstellungen einer breiten Bevölkerung der demokratischen
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