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Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
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weniger Wurzeln schlug als in Europa, wirkten die radikaldemokratischen Impulse dieses «Kleinproduzenten-Kapitalismus» bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Aus dem Handwerkerund Farmerprotest der Revolutionszeit kommend, setzten sie sich in der frühen Arbeiterbewegung fort, bewahrten aber zugleich ihre agrarischen Wurzeln. Der Populismus des ausgehenden 19.Jahrhunderts war ein Aufschrei gegen die Verwandlung einer einfachen Marktgesellschaft in den organisierten, hierarchischen Kapitalismus des Industriezeitalters. Um 1900 verstanden viele eine Welt nicht mehr, in der unabhängige Produzenten von großen Händlern und Spekulanten an die Wand gedrückt wurden, die in kontinentalen, teils auch schon globalen Netzwerken operierten. Solche Erfahrungen aus der «ersten Welle» der Globalisierung wiederholten sich ein Jahrhundert später, und in der heutigen Gegenüberstellung von (produktiver) «Realwirtschaft» und (unproduktiver, bloß spekulativer) «Finanzwirtschaft», die demokratische Staaten zum Wanken bringt, lebt die Sehnsucht nach einem demokratiekompatiblen Kapitalismus fort.
    Und dann gab es diejenigen, die sowohl mit dem Kapitalismus als auch mit der Demokratie wenig anzufangen wussten. In ihrer Perspektive standen beide nicht in Spannung zueinander, sondern waren unauflöslich verflochten – insofern handelt es sich dabei um eine ins Negative «umgestülpte» Variante der liberalen Sichtweise. Auf der Linken war die als bloß «bürgerlich» denunzierte parlamentarische Demokratie für Karl Marx und Friedrich Engels ein Beiprodukt der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der Herrschaft der Bourgeoisie, das mit dem Kapitalismus untergehen müsse. Wer das nicht wahrhaben wollte, galt ihnen schon um 1850 als kleinbürgerlich verblendet. Um 1900kostete es die reformerischen Kräfte der deutschen Sozialdemokratie um Eduard Bernstein erhebliche Anstrengung, die Akzeptanz der Demokratie nicht nur als pragmatisches Zwischenstadium auf dem Weg zu einem ganz anderen sozialistischen Staat zu verstehen; die Abspaltung des Kommunismus im Gefolge von Erstem Weltkrieg und bolschewistischer Oktoberrevolution war die unausweichliche Folge. Zur selben Zeit gelangte aber auch eine radikal-rechte Ablehnung von Demokratie und Kapitalismus, zumal in Deutschland, auf einen Höhepunkt. So erklärte die Reichstagsfraktion der konservativ-antirepublikanischen DNVP im Oktober 1924, man trete ein für ein Deutschland «frei von parlamentarischem Klüngel und demokratischer Kapitalherrschaft». Erst recht in der NSDAP verknüpfte sich dieses Feindbild mit dem Antisemitismus. Doch während aus der Bekämpfung der Demokratie und dem Judenhass tödlicher Ernst wurde, reichte der rhetorische Antikapitalismus der radikalen Rechten in der Praxis – auch außerhalb Deutschlands – nie sehr weit.
    So bleibt als Fazit: Marktkapitalismus und liberale Demokratie sind nicht zufällig zur gleichen Zeit aufgestiegen, aber der eine hat die andere nicht automatisch – als politisches Nebenprodukt – mit hervorgebracht. Ohne die wirtschaftliche Freiheit von Eigentum und Märkten ist Demokratie bisher nicht dauerhaft etabliert worden, aber auch nicht ohne kapitalismusskeptische Proteste, und nicht ohne staatliche Regulierung der Wirtschaft.
2 Zwischen Ungleichheit und Gerechtigkeit
    Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Ist diese Parole der Französischen Revolution nicht immer noch eine gute Faustformel, ein bündiges Prüfkriterium für Demokratie? Aber soziale Ungleichheit ist in den letzten zweihundert Jahren nicht verschwunden; sie hat zuletzt sogar wieder zugenommen. Auch in den wohlhabendsten, am meisten entwickelten westlichen Ländern sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich seit den 1980er Jahren wieder gewachsen, nachdem sich in den Nachkriegsjahrzehnten die Schere ein Stück weit geschlossen hatte. In den 1950er und 1960er Jahren erwartete der Soziologe Helmut Schelsky die Ankunft der Bundesrepublik in einer «nivellierten Mittelstandsgesellschaft». Darin wären gewiss nicht alle gleich, aber krasse Unterschiede abgeschliffen und die Mehrheit in einem relativ einheitlichenLebens- und Wohlstandsniveau vereint. Die Vereinigten Staaten, damals das große westdeutsche Vorbild, glaubten sich lange Zeit in solchem Zustand schon angekommen, und in der Zeit der Systemkonkurrenz mit dem sowjetischen

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