Was ist Demokratie
getroffen: Der Begriff ist dabei sich zu etablieren, auch unabhängig von Crouchs marxistisch inspirierten Argumenten. Im Herbst 2011 eröffnete im Florentiner Palazzo Strozzi eine Fotoausstellung internationaler Künstler unter dem Titel «Declining Democracy». Ein Hauch von Melancholie umgibt die Zukunft der Demokratie.
Gerade aus geschichtswissenschaftlicher Perpektive ist diese Frage berechtigt, auch wenn sie, nach einer längeren Zeit unbefragter Selbstverständlichkeit, noch etwas ungewohnt klingt. Alle Hervorbringungen menschlicher Gesellschaften sind historisch, das heiÃt unter bestimmten Umständen entstanden. Sie können auch wieder vergehen und durch andere Formen der Organisation von Wirtschaft, Herrschaft und sozialem Zusammenleben abgelöst werden. Wenn das für das Römische Weltreich galt und für den europäischen Feudalismus, für die absolute Monarchie der frühen Moderne und im 20. Jahrhundert für einen spezifischen Typus totalitärer und extrem gewaltsamer Diktatur, muss die Demokratie davon keine Ausnahme bilden. Sie ist historisch «kontingent»: Es muss sie nicht notwendig und für alle Zeiten geben. Im Prinzip ist das keine neue Erkenntnis, aber sie wurde von einer Vorstellung der Demokratiegeschichte lange Zeit überdeckt, die sich mit der Kosmologie, dem astrophysikalischen Bild von der Entwicklung des Universums, vergleichen lässt: Auf den Urknall folgt eine stete Expansion bis in die Unendlichkeit von Raum und Zeit. So vollzog sich nach liberal-aufklärerischer Vorstellung die Ausbreitung von politischer Freiheit und demokratischer Verfassung als ein Wachstums- und Fortschrittsprozess, dem einige Rückschläge letztlich nichts anhaben konnten.
Auf den ersten Blick ist es höchst paradox, dass diese Sichtweise gerade in dem historischen Moment fragwürdig wird, in dem jede ernsthafte Alternative zur Demokratie, als politischer Verfassung wie als freier Lebensform im weiteren Sinne, verloren gegangen ist. Die Alternativlosigkeit der Demokratie ist tatsächlich ein bemerkenswertes historisches Novum. In der griechischen Antike war die Demokratie immer nur eine unter mehreren Regierungsformen, und eine normative Ãberlegenheit als «beste» unter diesen Optionen wurde ihr kaum zugeschrieben. Der Wechsel politischer Regime und Verfassungsmodellevollzog sich nach damaliger Sicht nicht als linearer Fortschritt, sondern in der zyklischen Bewegung eines ständigen Kreislaufs oder einer Welle des Auf und Ab. Nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis hatte die athenische Demokratie ihre Feinde. Tatsächlich ging sie nach längstens drei Jahrhunderten zu Ende und blieb insofern eine, wenn auch welthistorisch bedeutsame, Episode. Bei ihrer Neuentstehung im 18. und 19. Jahrhundert konnte von Siegesgewissheit erst recht keine Rede sein. Vielmehr blieb Demokratie marginal: als politisch-soziale Bewegung nur von einer Minderheit unterstützt, als Regierungsform ein Sonderfall in der Welt der Monarchien.
Ihr Anspruch auf universelle Geltung entstand also überhaupt erst im 20. Jahrhundert â und stand dann sofort in der Herausforderung durch die Alternative der Diktatur. Das war nicht nur eine faktische Herausforderung, im Sinne einer unglücklichen Störung des «Idealfalls Demokratie». Die Diktatur bildete vielmehr eine Zeitlang auch eine normative Alternative, insofern viele sie der Demokratie für überlegen hielten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verblasste diese Option der emphatischen Diktatur bereits rapide; autoritäre Regimes und Diktaturen wie die kommunistischen in Ostmitteleuropa stilisierten sich stattdessen als die überlegene Demokratie. Nach 1989 ist von dieser Alternative, auch wenn längst nicht alle Länder der Erde demokratisch sind, erst recht nicht mehr viel geblieben. Vor allem der «inneren Kritik» an der Demokratie in den westlichen Gesellschaften fehlt, nach dem Ende einer sozialistischen Verfassungsoption, ein halbwegs konkreter Gegenentwurf für eine bessere Regierungsform nach der Demokratie, die man dennoch häufig im Niedergang sieht. Vermutlich löst sich dieses Paradox auf, wenn man im Verschwinden von Alternativen gerade einen Auslöser des neueren Unbehagens sieht. Die demokratische Option tritt damit nicht klarer hervor, wie zuvor in ihrer Geschichte, sondern wird diffuser. Sie vermittelt zugleich das Gefühl
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