Was ist Demokratie
der Unausweichlichkeit und Schicksalhaftigkeit, das sie nun mit der Macht des Kapitalismus zu teilen scheint. Demokratie verspricht dann nicht mehr Freiheit, sondern wird als Bedrohung eines «stahlharten Gehäuses» empfunden.
Gegen die Kontingenz der Demokratie oder jedenfalls gegen das Bild ihres inneren Verfalls seit dem späten 20. Jahrhundert lassen sich jedoch eine ganz Reihe von Argumenten anführen, empirische und grundsätzliche. Auch radikal veränderte soziale und wirtschaftliche Verhältnisse haben den wichtigsten «Bausteinen» der Demokratie, vonder Pressefreiheit über freie Wahlen und Parteien bis zu Parlamenten, nichts anhaben können. Die postindustrielle, global vernetzte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hat mit der Pferdekutschen-Welt des späten 18.Jahrhunderts, in der radikale Bürger und Handwerker demokratische Verfassungen entwarfen und praktizierten, wenig zu tun. Ein Parlament der Gegenwart würden diese frühen Demokraten aber sofort wiedererkennen. Was sie vermutlich am tiefsten irritieren würde, gäbe es eine Zeitmaschine, wäre übrigens nicht das Flugzeug oder das Mobiltelefon, sondern die enthierarchisierte, egalitäre Alltagskultur der Moderne, und nicht zuletzt die Stellung der Frauen. Teils haben demokratische Impulse und Bewegungen diese Gegenwart selber herbeigeführt; teils haben sich demokratische Institutionen als erstaunlich langlebig, und vor allem flexibel, erwiesen. Warum gerade die Veränderungen, in denen wir heute stehen, die Demokratie fundamental gefährden, müsste deshalb schon sehr gut begründet werden. Dass der Kapitalismus erneut in ein neues Stadium tritt, reicht dafür kaum aus.
Auch das Argument der spezifischen «Zeittakte» moderner Gesellschaften, mit denen sich die Rhythmen der Demokratie nicht synchronisieren lieÃen, überzeugt nicht. Es kursiert seit einiger Zeit in zwei Varianten. Nach der einen erfordert eine sich immer schneller bewegende technische und ökonomische Welt schnelle politische Entscheidungen, die Demokratien mit ihren langen Verfahren der Diskussion und ihrer Einbeziehung vieler Akteure nicht mehr leisten könnten. Deshalb könnten sich stromlinienförmig organisierte autoritäre Regime wie China einen globalen Wettbewerbsvorteil sichern. Diese Herausforderung besteht in mancher Hinsicht tatsächlich, auch wenn sie nicht unbedingt neu ist. Komplizierte Verfahren der Mehrheitsfindung etwa in der Europäischen Union müssen deshalb überprüft werden, doch die Antwort wird häufig in mehr statt weniger Demokratie liegen: nämlich im Sinne von klarer Verantwortlichkeit, parlamentarischer Exekutive und Mehrheitsprinzip. Im Ãbrigen müssen demokratische Gesellschaften mit dieser Spannung leben. Die zweite Variante unterstellt parlamentarischen Systemen mit ihren Wahlperioden von vier oder fünf Jahren eine strukturelle Kurzfristigkeit des politischen Denkens. Es gehe dem Abgeordneten oder der Bundeskanzlerin, so hört man häufig, nicht um langfristige Ziele des Gemeinwohls, sondern bloà um die eigene Wiederwahl. Dahinter scheint aber nicht nur eine Vision des objektiven und absoluten «Gemeinwohls» auf, die mit Demokratie gerade nicht sehr viel zu tun hat. Das Argument steht auch empirisch aufschwachen FüÃen, nicht weil es vollkommen unbegründet wäre, sondern weil es dem Vergleich mit anderen, zumal autoritären politischen Systemen nicht standhält. Eine nachhaltige Diktatur â das ist nach aller historischen Erfahrung eine
contradictio in adiecto,
ein Widerspruch in sich selbst. Auch was das Prinzip der Langfristigkeit und Nachhaltigkeit angeht, ist die Demokratie, mit Churchill gesprochen, die am wenigsten schlechte aller Regierungsformen.
Man sollte sich zudem, historische und grundsätzliche Ãberlegungen verbindend, an die Situation während der «groÃen Krise» der Demokratie am Anfang des 20. Jahrhunderts, besonders in den 20er und 30er Jahren, erinnern. Weithin war damals, von links bis rechts, die Ãberzeugung vom zu Ende gehenden Zeitalter der Demokratie, der Parlamente, der liberalen Freiheit und des Individualismus die Rede. Auch wenn die Demokratie der Weimarer Republik nicht zuerst am falschen Reden gescheitert ist, sondern am antidemokratischen Handeln ihrer Eliten ebenso wie erheblicher Teile der Bevölkerung, die antidemokratische Parteien gewählt und
Weitere Kostenlose Bücher