Was ist Demokratie
jenseits des Westens. Dieser Streit wird ohnehin ganz überwiegend in der politischen Theorie und Philosophie ausgetragen. In der empirisch orientierten Politikwissenschaft und Ãkonomie findet man kaum einen Zweifler der globalen Ausbreitung der Demokratie und der Berechtigung dieses Ziels. Einen feierlichen Triumph des Westens über unterlegene Kulturen sehen die Universalisten, egal ob Philosophen oder Empiriker, darin aber nicht mehr.
Jürgen Habermas folgt einer Tradition der Aufklärung, wenn er auch in seiner Begründung der Demokratie von einer Allgemeingültigkeit der Vernunft ausgeht, die letztlich der menschlichen Natur innewohne. In diese Vernunft sind alle gleichermaÃen einbezogen, im Sinne einer egalitären Inklusion. Prinzipielle Differenzen zwischen verschiedenen Kulturen â oder den Eigenarten von Völkern, wie man früher gesagt hätte â werden nicht anerkannt; jedenfalls hätten sie sich dem gleichen Anspruch an Vernunft und Freiheit zu stellen. So würde etwa der Ausschluss von Frauen aus der politischen Gleichheit und Teilhabe aus kulturellen Differenzen historisch erklärbar, aber nicht normativ zu rechtfertigen sein. Demokratie ist nicht irgendeine politische Verfassung neben anderen, sondern der politische Ausdruck des Anspruchs aller Menschen auf Freiheit und Autonomie, in der privaten ebenso wie in der öffentlichen Sphäre. Auch die Menschenrechte müssten deshalb universell gültig sein. Für eine Kritikerin wie Chantal Mouffe dagegen fallen Universalisten wie Habermas auf eine «kosmopolitische Illusion» herein. Sie wirft ihm vor, reale Konflikte zwischen dem Westen und anderen Kulturen mit unpolitischer Harmonie zu überdecken, und damit Gesellschaften auÃerhalb des Westens einem Anspruch auf Demokratie auszusetzen, der sie in eine untergeordnete und abhängige Position bringt. In dieser Sichtweise verbirgt sich hinter dem Anspruch auf globale Geltung der Demokratie eine Fortsetzung des kolonialen und imperialistischen Projekts des Westens. Dahinter steht freilich auch die tiefe Skepsis der marxistischen Tradition, ob die liberale Demokratie überhaupt â also auch innerhalb der westlichen Gesellschaften â angemessener Ausdruck von Freiheit und Gleichheit ist.
Der indische Ãkonom und Philosoph Amartya Sen hat die Demokratie auf weniger fundamentale Weise als einen universellen Wert begründet:eher aus der historischen Erfahrung und ihren konkret beobachtbaren Vorzügen. Den innerwestlichen Theoriestreit lässt er hinter sich, indem er nicht fragt, was der Westen anderen Gesellschaften bringen müsse, sondern die Blickrichtung umkehrt: Worauf haben Menschen überall auf der Welt einen Anspruch? Demokratie ist für ihn die Normalform politischer Verfassung im 20. Jahrhundert, die auch den weniger entwickelten und ärmeren Nationen nicht verwehrt werden könne. Die Frage ist dann nicht, ob bestimmte Kulturen oder Weltregionen «fit for democracy» sind, sondern wie sie «fit through democracy» werden können. Demokratie ist für ihn die freie Verfassung, mit der Menschen ihr Leben verbessern können. So hat Sen in einer berühmten Studie den Nachweis geführt, dass es noch niemals eine gröÃere Hungersnot in einem demokratischen Land mit Pressefreiheit gegeben habe â ein Argument, das an die These vom «demokratischen Frieden» erinnert. Zugleich holt Sen die westliche Position vom Sockel ihrer vermeintlich überzeitlichen Geltung, indem er ihre relative Neuheit betont. Die scharfe Dichotomie zwischen Westen und Nicht-Westen schmilzt so dahin: Demokratie ist die globale Regierungsform des 20. Jahrhunderts, die allenfalls in einigen westlichen Ländern ein paar Jahrzehnte früher angekommen ist als in Asien oder Afrika.
Wenn die Etablierung demokratischer Regime also sogar im ureigenen Interesse nichtwestlicher Länder liegt, müsste man sich auch politisch dafür einsetzen, diesen Prozess zu fördern. Welche Rolle dabei die konsolidierten Demokratien des Westens spielen können und spielen sollen, ist wiederum umstritten. Der umgangssprachlich häufig benutzte Begriff des «Demokratieexports» legt die falsche Vorstellung nahe, demokratische Verfassung und Kultur könne im Westen gebrauchsfertig eingepackt und auf die Reise in andere Teile der Welt geschickt werden. Als Beispiel dafür wird immer wieder der Aufbau der westdeutschen
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