Was ist Demokratie
eine wiederum andere, auch muslimisch geprägte Moderne durchsetzen. So könnte man auch eine Vielfalt der Demokratie erwarten: eine «multiple Demokratie» nicht nur als Mehrdimensionalität der postklassischen westlichen Ordnungen, sondern auch in der globalen Differenzierung. Man kann eher diese Unterschiede betonen oder eher die Gemeinsamkeiten in zentralen Werten, Institutionen und Verfahren â das wird umstritten bleiben. Auch innerhalb Europas unterscheiden sich die britische und die Schweizer Demokratie erheblich.
Wenn die ganze Welt demokratisch wird, müsste sie dann nicht auch im Ganzen, als ein Weltbürgerstaat, demokratisch verfasst sein und regiert werden? Eine solche Vision führt auf Immanuel Kants «Föderalismus freier Staaten» zurück und hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also in der Zeit von Krise und Herausforderung der Demokratie durch totalitäre Diktaturen, ihre moderne Fassung erhalten. Im Völkerbund nach dem Ersten Weltkrieg und in den Vereinten Nationen nach dem Zweiten konkretisierten sich solche demokratischen, pazifistischen und utopischen Erwartungen. Damals lag die Vorstellung nahe, eine globale Demokratie analog zu den bekannten Formen politischer Organisation zu entwerfen: Das konnte, Kant folgend, eine Föderation sein, also ein Staatenbund. Dieser Gedanke wurde im Science Fiction der 1960er Jahre sogar auf interplanetarisches Niveau gehoben, nämlich in der «Föderation» der amerikanischen Serie «Star Trek», für die das Raumschiff Enterprise unterwegs war. Oder man fasste eine Art Welt-Nationalstaat ins Auge, in dem eine Weltregierung und ein Weltparlamentunmittelbar die Souveränität einer globalen Bürgerschaft ausdrücken würden. In seinem amerikanischen Exil hat sich der Schriftsteller Thomas Mann in den 1940er Jahren, vor dem Hintergrund zerstörter Demokratie in Europa, für das Projekt einer Weltdemokratie engagiert und gemeinsam mit anderen Intellektuellen im Herbst 1940 sogar den Entwurf einer Weltverfassung vorgelegt. Eine Tagung im schweizerischen Interlaken griff diesen Impuls 1948, unter Mitwirkung von Manns Tochter Elisabeth, auf. Auch heute noch setzen sich verschiedene Organisationen für dieses kosmopolitische Projekt ein.
Ãhnlich wie in der europäischen Integration haben sich die hochfliegenden Erwartungen an Weltstaat und Weltverfassung nicht erfüllt. Damit ist Demokratie auf globaler Ebene aber nicht gescheitert; sie hat nur einen anderen, und komplizierteren, Aggregatzustand angenommen. Demokratie, Bürgerschaft und Staatlichkeit lösen sich zunehmend von der Eindeutigkeit territorialer Grenzen, so dass ein Weltstaat, mit dem Philosophen Otfried Höffe gesprochen, kein globaler Leviathan sein wird. Politische Bürgerschaft überträgt sich nicht vom Nationalstaat auf einen europäischen und von dort wieder auf einen globalen Staat, sondern fächert sich in verschiedene Schichten auf. Dabei spielt eine entstehende globale Zivilgesellschaft eine bedeutende Rolle, wie sie Thomas Mann, und erst recht Kant, noch nicht erahnen konnten: als informelles Weltbürgertum zum Beispiel im Internet, als formal organisiertes in Menschenrechts-, Konsumenten-, Umweltschutzgruppen und anderen Institutionen der weltweiten «anwaltschaftlichen Demokratie». Die Vollversammlung und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sind nur noch zwei Elemente in diesem Gefüge, und in der Perspektive auf Demokratie nicht einmal mehr die wichtigsten.
8 Jenseits der Demokratie?
Demokratie ist in aller Munde. Selten ist über Demokratie mehr gesprochen worden als zu Beginn des 21.Jahrhunderts. In westlichen Ländern und anderswo auf der Welt, in etablierten demokratischen Systemen ebenso wie in autoritären Gesellschaften artikulieren sich politische Forderungen und soziale Proteste unter Berufung auf demokratische Ziele und Ideale, und mit der Anprangerung demokratischer Defizite. Doch seit einigen Jahren, und verstärkt seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008, äuÃert sich auch eine grundsätzlicheSkepsis an der Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Hat die Demokratie den Zenit ihrer Geschichte überschritten, geht das Zeitalter der Demokratie zu Ende? Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat von «Postdemokratie» gesprochen und damit, nach der Resonanz in Wissenschaft und Ãffentlichkeit zu urteilen, einen Nerv
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