Was ist Demokratie
Vorzeichen fortsetzte. In Frankreich übte der revolutionäre Nationalismus einen Anpassungsdruck auf regionale und sprachliche Minderheiten wie die Basken und die Bretonen aus. Und das demokratische Spanien ringt bis heute mit der Frage, wie viel politische Autonomie den Basken und Katalanen eingeräumt werden kann, ohne den Nationalstaat in seiner Existenz zu gefährden.
Wird die Verbindung von Nationalismus und Demokratie auch in Zukunft noch eine Rolle spielen? Sie tut es ganz manifest zum Beispiel in jenem republikanisch-demokratischen Patriotismus, den die Deutschen an den fähnchenschwenkenden Franzosen oder Amerikanern oft befremdlich finden. Vor der Wiedervereinigung haben manche wie Dolf Sternberger oder Jürgen Habermas, für einen «Verfassungspatriotismus» der Westdeutschen geworben: also für ein nationales Identitätsbewusstsein, das auf dem Stolz auf das Grundgesetz beruhtstatt auf dem Glauben an die Ãberlegenheit deutschen Blutes oder deutscher Dichtung. Mit dem demokratischen Aufbruch in der DDR 1989 und der daraus resultierenden Vereinigung ist, so sagen viele, auch ein «normaler» Nationalstolz, wie ihn unsere Nachbarn pflegen, möglich geworden. Aber trotz der Wiederentdeckung der schwarz-rotgoldenen Fahne bei der FuÃballweltmeisterschaft 2006 tun sich die Deutschen schwer, ein Bewusstsein ihrer Zusammengehörigkeit zu entwickeln, das auf Demokratie und Freiheit beruht. Ein «Denkmal für Freiheit und Einheit» zu errichten kommt vielen irgendwie schwülstig vor.
Zudem tritt die nationale Demokratie durch die europäische Einigung in den Hintergrund. Auch wenn inzwischen klar ist, dass dieser Weg kaum zu einer Auflösung von Nationalstaaten oder nationalen Identitäten in Europa führen wird â nicht zu einer einzigen Nation der «Vereinigten Staaten von Europa» also â, ist der historische Impuls für den europäischen Einigungsprozess gerade in Deutschland und Frankreich unvergessen: nämlich die Lehren aus übersteigertem Nationalismus und Völkerfeindschaft zu ziehen. Gleichzeitig überlagern sich in manchen europäischen Regionen, vor allem im ehemaligen Jugoslawien, demokratisch-freiheitliche und aggressiv-illiberale Impulse des Nationalismus auf manchmal kaum zu entwirrende Weise. Dort hat die Wiederentdeckung von Nationen und Ethnien seit 1990 die demokratische Nationalstaatsbildung und die innere Annäherung an Westeuropa vorangetrieben, aber im selben Atemzug ethnische Feindschaft, autoritäres Denken und brutale Gewalt genährt: Diese Paradoxie kennzeichnet die jüngste Geschichte Kroatiens. In den ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus und in Zentralasien sind ähnliche Spannungen bis heute virulent. Und dennoch kann man erwarten, dass die historischen Grundimpulse der Nationsidee: der Gedanke der Inklusion, also der universellen Zugehörigkeit; die Vorstellung von der Gleichheit aller in der Nation; und nicht zuletzt die Verbindung von Nation und Volkssouveränität, an verschiedenen Stellen der Erde auch in Zukunft aufgegriffen werden, um sich gegen Unterdrückung und autoritäre Regime zu wehren.
8 Demokratische Revolutionen im 20. Jahrhundert
Als Zeitalter der demokratischen Revolution bezeichnet man gewöhnlich die Spanne von der Amerikanischen und Französischen Revolution bis zum Ende der Europäischen Revolutionen von 1848, also ungefähr die Zeit zwischen 1770 und 1850. Aber das 20. Jahrhundert war kaum weniger revolutionär. Und was vorher auf die westliche Welt beschränkt war â zunächst Europa, dann Nord- und Südamerika â, das wurde jetzt zu einer globalen Erscheinung. Die Revolutionen des 20.Jahrhunderts waren nicht immer demokratisch, weder in ihrer Zielsetzung noch in ihren Ergebnissen, zum Teil nicht einmal in ihren Mitteln. Aber das gilt, unter umgekehrtem Vorzeichen, auch für das 17. und 18. Jahrhundert: Die frühen Revolutionen konnten nicht im vollen Sinne demokratisch sein, weil eine moderne Demokratie noch gar nicht im Horizont der Zeitgenossen liegen konnte. Die Revolutionen des 20. Jahrhunderts dagegen begannen, in neuartiger Weise über die Demokratie hinauszudrängen. Sie gaben sich mit den liberalen Freiheitsrechten und der parlamentarischen Republik teils nicht mehr zufrieden, teils lehnten sie eine solche Ordnung ganz bewusst ab oder versuchten sie sogar zu beseitigen. Aber auch der Typus der
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