Was ist Demokratie
«klassischen» demokratischen Revolution, in dem die Menschen Demokratie erstrebten und am Ende auch institutionell sichern konnten, ging im Laufe des 20. Jahrhunderts und bis heute nicht verloren.
Eine solche Phase läutete das 20. Jahrhundert an ganz verschiedenen Stellen der Erde, weitgehend unabhängig voneinander, ein: Autoritäre Regime fielen, Monarchien wurden durch Republiken ersetzt oder zumindest durch parlamentarische Mitwirkung in ihrer Allmacht eingeschränkt. Die erste Russische Revolution von 1905 versetzte der zaristischen Autokratie einen schweren Schlag. Liberaler Konstitutionalismus und Bewegungsfreiheit jenseits des Polizei- und Ãberwachungsstaates waren ihre Hauptziele, aber daneben organisierten sich sozialistische Industriearbeiter schon in den ersten Räten, den «Sowjets». Ein nationales Parlament, die Duma, regierte seither mit schwachen Befugnissen in St. Petersburg mit. 1910 stürzte in Mexiko die autoritäre Diktatur des Porfirio Diaz; die «Mexikanische Revolution» führte lange Zeit aber nicht in stabile Verhältnisse und vermochte kaum, ihr soziales Reformprogramm in einer krass ungleichen ländlichen Gesellschaft umzusetzen. In China fiel die jahrtausendealte kaiserliche Herrschaft 1911zugunsten der bürgerlichen Republik Chiang Kai-sheks und seiner Kuomintang-Partei, doch folgte auf diese erste Chinesische Revolution bald ein Bürgerkrieg gegen die Kommunisten und eine lange Phase von Instabilität und Gewalt, bis in die Kulturrevolution der späten 1960er Jahre. Das Streben nach einer grundlegenden sozialen Veränderung trat am Anfang des 20. Jahrhunderts allenthalben neben das Ziel der politischen Freiheit und bürgerlichen Demokratie; bisweilen verstärkten sich beide, aber sie gerieten auch zueinander in Spannung. Nach dem Ersten Weltkrieg begnügte sich die deutsche Revolution von 1918/19 im Wesentlichen mit der politischen Umgestaltung zu Republik, parlamentarischer Demokratie und liberaler Rechtsordnung; auch die Mehrheit der Sozialdemokraten lehnte weitergehende sozialrevolutionäre Ansprüche ab, weil sie befürchtete, damit die Demokratie wieder zu gefährden.
Der Russischen Revolution von 1917 kommt deshalb eine zentrale Bedeutung, eine Scharnierstellung zwischen Vergangenheit und Zukunft zu. Man kann sie als die letzte groÃe Revolution des klassischen Typs verstehen: Unübersehbar knüpften die Bolschewiki an das Vorbild der Jakobiner in der radikalen Phase der Französischen Revolution an. Zugleich etablierte sie das Grundmuster eines neuen Revolutionstypus: eine Revolution, die sich nicht nur in unvermeidlichen Konflikten zwischen politischen Freiheits- und sozialen Gleichheitsrechten verhedderte, sondern ganz bewusst eine prinzipielle Entscheidung gegen Freiheit und Demokratie im Namen vermeintlich überlegener Ziele traf. Im Februar 1917 erzwang eine liberal-bürgerliche Revolution zunächst das, was 1905 nicht voll gelungen war: Russland wurde, eine verheerende Niederlage gegen Deutschland im Weltkrieg vor Augen, im vollen Sinne konstitutionelle Monarchie. Aber das parlamentarische System blieb instabil, weil ihm in einer rückständigen und bitterarmen ländlichen Gesellschaft der Rückhalt fehlte und in den Industriestädten St. Petersburg und Moskau die Arbeiterschaft überwiegend den sozialistischen Parteien folgte. Die informelle «Doppelherrschaft» von provisorischer Regierung und den erstarkenden Räten konnte nicht von Dauer sein. Ende Oktober stürzten die Bolschewiki unter Lenins Führung die Regierung und das parlamentarische System. Eine Konstituierende Versammlung lieÃen sie noch wählen, um sie sofort wieder aufzulösen. Russland sollte als Räterepublik die «Diktatur des Proletariats» verwirklichen. Lenins Versprechen von «Land und Frieden» war für viele Arbeiter und Bauern zeitweise attraktiver als individuelle Freiheit und pluralistische Demokratie.
Auch wo man der späteren stalinistischen Verhärtung der Sowjetunion nicht folgen wollte, sahen seitdem viele die Russische Revolution als ein Vorbild für die Umgestaltung ihres Landes â und nicht zuletzt: für die Unabhängigkeit vom Westen, den man nicht als Muster von Freiheit und Demokratie erfuhr, sondern als direkte oder informelle Kolonialmacht, die es ihrem ganzen Wesen nach abzuschütteln galt. Dieser antiwestliche Grundzug hat immer wieder
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