Was ist Demokratie
Ãffentlichkeit als gesellschaftlicher Fortschritt zu gelten habe. Anderswo, etwa in den multiethnischen und multireligiösen Städten des Habsburgerreiches bis in die heutige Ukraine und auf dem Balkan, war das Zusammenleben von Katholiken, Juden, Muslimen und Protestanten bis 1917/18 zwar nicht konfliktfrei, aber vergleichsweise frei und tolerant.
Eine grundsätzlich neue Färbung erhielt das Verhältnis von Religionsfreiheit und Demokratie erst mit den radikalisierten politischen Ideologien und neuen Diktaturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Nationalsozialisten beriefen sich gerne auf vorchristliche Traditionen, etwa germanische Mythen und Kulte, doch blieb ihr Angriff auf Kirchen und Religionsfreiheit begrenzt (zumal die meisten Protestanten das «Dritte Reich» gerne unterstützten). In offener Feindschaft begegnete das bolschewistische Regime in der Sowjetunion der orthodoxen Kirche, ebenso wie die meisten sozialistischen Staaten nach 1945 ihren Religionsgemeinschaften und religiös bekennenden Bürgern. Nach der orthodoxen marxistischen Theorie war die Religion ein Produkt des «Ãberbaus» und falschen, manipulierten Bewusstseins, das mit dem Ãbergang in den Kommunismus verschwinden müsse.
Mindestens genauso wichtig für die Religionsfeindschaft vieler Diktaturen des 20. Jahrhunderts war jedoch ihre Gründung in umfassenden Weltbildern und Ideologien, die selber religiöse Züge trugen. Von der paradiesischen Enderwartung des Kommunismus oder eines «tausendjährigen Reiches» über die Erfindung von Ersatzkulten und Initiationsritualen bis zur messianischen Inszenierung ihrer Herrscher spiegelten sie die jüdisch-christliche Tradition als säkularisierten Gegenentwurfwider. Ihr Anspruch auf Absolutheit und ihre Verweigerung von Pluralität musste sich auch deshalb gegen religiöse Autonomie und Freiheit richten, weil in ihr immer die Gefahr von Loyalitätsverweigerung, Kritik und Gegenentwurf lauerte. Und tatsächlich gaben die katholische Kirche in Polen und die evangelische Kirche in der DDR der Ãberwindung der Diktaturen und der Demokratisierung in ihren Ländern entscheidende AnstöÃe. Als Antwort auf die neuartige Herausforderung der Unterdrückung von Religion in Diktaturen erschien die Religionsfreiheit in programmatischen Dokumenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder, wie am Ende des 18. Jahrhunderts, an prominenter Stelle: so im Art. 18 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 oder 1975 im «Korb I» der Schlussakte von Helsinki.
Als Heilsbringer der Demokratie darf man Religion deshalb nicht missverstehen, weder vor zwei Jahrhunderten noch in der jüngeren Geschichte und Gegenwart. Man kann vielmehr auch umgekehrt die Frage nach der Demokratiefähigkeit von Religion stellen und zeigen, welchen langen und komplizierten Weg gerade auch das Christentum dabei zurückzulegen hatte. Das gilt nicht zuletzt in Deutschland, wo viele Protestanten, aber auch Katholiken erst nach der Gründung der Bundesrepublik ihre Skepsis, wenn nicht gar Abneigung gegen die parlamentarische Demokratie aufgegeben haben. Mit Arroganz lässt sich dieselbe Lernfähigkeit also nicht von anderen einfordern. Das historische geprägte Verhältnis von Religionsfreiheit und Staatskirchenverfassung wirkt in vielen Ländern nach. Säkulare Staaten wie Frankreich suchen religiöse Symbole des Islam strikt aus der Ãffentlichkeit zu verdrängen. In den USA, wo die Trennung von Staat und Kirche, also das «disestablishment» ebenfalls ein sehr hohes Gut ist, wird dagegen die Freiheit der Religionsausübung und das Persönlichkeitsrecht höher bewertet. Dort sieht man es wiederum skeptisch, wenn in Deutschland die «Scientology»-Bewegung nicht ohne weiteres als Religionsgemeinschaft anerkannt wird. In Mitteleuropa hat man sich eine Zeit lang auch schwer getan, Moscheebauten zu akzeptieren; die Schweizer haben in einer Volksabstimmung 2009 ein Minarettverbot unterstützt.
Es gibt weiterhin westliche Länder mit einer Staatskirche: England, Griechenland oder Dänemark. Ein Hindernis der Religionsfreiheit ist das für die allermeisten praktischen Zwecke nicht; erst recht keine Belastung der Demokratie. Aber die Religionsfreiheit ist auch in jüngster Zeit oft ein Lackmustest für die allgemeine Geltung von Grundrechten gewesen, und sie ist immer wieder ein
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