Was ist Demokratie
überhaupt gelten kann. Sie nahm an ihrem Beginn die ersten französischen Artikel beinahe wörtlich vorweg: die Feststellung der gleichen Freiheit aller Menschen (oder wieder nur: aller Männer? â das englische Wort «man» hat die gleiche Doppelbedeutung wie das französische «homme»!) von Natur aus und vor ihrem Eintritt in einen Gesellschaftsvertrag. Und auch hier folgte die Feststellung der Volkssouveränität der Freiheitsdeklaration nicht zufällig auf dem FuÃe, gleich im zweiten Artikel. Menschen- und Bürgerrechte lieÃen sich also gar nicht trennen. Ãhnlich sah das auch Jeffersons Unabhängigkeitserklärung, die in den gleichen Wochen entstand und am 4. Juli 1776 offiziell die berühmte Formel verkündete: «All men are created equal.»
Das war damals noch weithin eine Behauptung, ein uneingelöstes Versprechen. Aber genau dieses Spannungsverhältnis gehörte seit dem 18. Jahrhundert zur Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte unauflöslich dazu: Sie sollten einerseits, wie das «positive Recht» von Gesetzen, unmittelbar gelten. Denn meistens waren sie nicht nur «Deklaration», sondern Teil der neuen Verfassungen â in Frankreich 1789, in Deutschland 1848 â oder Ergänzung zu ihnen wie die «Bill of Rights» in der amerikanischen Bundesverfassung seit 1791. Andererseits setzten sie sich, mit der typischen aufklärerischen Emphase, über ihre Zeit und ihre Bedingungen grandios hinweg â und damit zu diesen Bedingungen oft auch in Widerspruch, wenn â wie im amerikanischen Süden â die Sklaverei trotz der deklamierten Gleichheit und Freiheit für «alle» fortbestehen konnte. Aber sie entwarfen damit auch einen Horizont der Erwartung für die Zukunft, an dem ihre Defizite, ihre Einlösung gemessen werden konnten. Denn der Widerspruch blieb ja nicht unentdeckt, nicht einmal für wenige Jahre. Schon 1792 stellte Mary Wollstonecraft ihre «Rechtfertigung der Frauenrechte» den «Rights of Man» gegenüber und forderte die Geltung der gleichen Freiheit und allgemeinen Rechte auch für die Frauen. Das war damals noch eine Utopie, aber eben dieser utopische Vorgriff hat die Dynamik der Menschenrechte seitdem maÃgeblich bestimmt. Eine «letzte Utopie», die nach dem Scheitern anderer Zukunftsentwürfe heute noch verblieben ist, hat der Historiker Samuel Moyn kürzlich die Menschenrechte genannt.
Der utopische Vorgriff des 18. Jahrhunderts reichte so weit, dass seine Forderungen auch im beginnenden 21. Jahrhundert immer noch aktuell sind und Kritik an Menschenrechtsverletzungen begründen können. Aber die heute oft so zeitlos erscheinenden Erklärungen sind von Menschen mit ganz bestimmten Erfahrungen verfasst und in konkreten Konfliktsituationen verabschiedet worden. Menschenrechte unterliegen historischem Wandel â vor allem im 20. Jahrhundert sind neue Rechtsansprüche und Freiheitsideale hinzugekommen, während uns manches als überholt vorkommt, was den Zeitgenossen vor zweihundert Jahren auf den Nägeln brannte. Die in der amerikanischen Bill of Rights verbürgte Freiheit des Waffentragens etwa sollte die neue republikanische Freiheit sichern, indem die Bürger sich in einer Miliz organisierten, statt der gefürchteten Unterdrückung durch ein stehendes Heer anheimzufallen, das als Instrument monarchischer Tyrannei galt. Die Eigentumsfreiheit erschien prominent angesichts des Heraufziehens einer kommerziell-kapitalistischen Gesellschaft. Andere zentraleForderungen von damals wie die nach Abschaffung von Folter und Sklaverei sind in den westlichen Demokratien nicht mehr so lebensweltlich nahe wie damals, haben aber ihre Bedeutung noch nicht verloren, auch nicht in den USA und Europa.
Vor allem haben neue Erfahrungen und Möglichkeiten den Grundrechtskatalogen zunehmend ihren Stempel aufgedrückt. Soziale und kulturelle Rechte haben die allgemeinen und bürgerlich-politischen Freiheiten nicht abgelöst, aber ergänzt: das Recht auf Arbeit, auf Bildung, auf medizinische Versorgung. Der britische Soziologe T. H. Marshall hat 1950 ein Stufenmodell vorgeschlagen, demzufolge im 18. Jahrhundert allgemeine und bürgerliche Rechte, im 19. Jahrhundert politische Rechte und im 20. Jahrhundert soziale Rechte im Vordergrund gestanden hätten. Das trifft die Realität aber nur unvollkommen, denn das Spektrum der
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