Was ist Demokratie
Fraenkel 1941 einen «Doppelstaat» nannte: Einerseits bestand die Hülle des Rechtsstaates im «Dritten Reich» fort, andererseits konnte er als ein «MaÃnahmenstaat» jederzeit durch willkürliche Ãbergriffe und ad hoc-Regelungen auÃer Kraft gesetzt werden. Auf dieser Linie des Gegensatzes von Rechtsstaat und Diktatur ist auch die Debatte über die DDR als «Unrechtsstaat» einzuordnen. Der Begriff hat aber kaum wissenschaftliche Bedeutung. Man kann ihn als Abwesenheit des Rechtsstaates verstehen â als «Un-Rechtsstaat» also, was die DDR nach den allermeisten Definitionen des Rechtsstaates zweifellos war. Pointierter ist die Lesart als «Unrechts-Staat», also als ein Regime, in dem das Unrecht gewissermaÃen Prinzip, Programm und Praxis geworden wäre.
Moderne Begriffe des Rechtsstaates betonen jedenfalls viel mehr als früher die unauflösliche Verbindung von Rechtsstaat und Demokratie. Man spricht von einem «materiellen» im Gegensatz zum bloà «formellen» Verständnis des Rechtsstaats, weil es um mehr geht als bloà ein Gerüst Sicherheit gebender gesetzlicher Ordnung, denn mit Gesetzen lassen sich auch Unterdrückung, Verfolgung und Völkermord betreiben. In seinem Buch «Faktizität und Geltung» nennt Jürgen Habermas zwar auch den individuellen Rechtsschutz und die GesetzmäÃigkeit der Verwaltung als grundlegende Prinzipien des Rechtsstaates, darin gewissermaÃen der deutschen Tradition des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts folgend. Erstes und fundamentales Kriterium aber ist für ihn die Volkssouveränität, also das Grundprinzip der modernen Demokratie überhaupt. Habermas spricht vom «demokratischen Rechtsstaat», aber damit ist nicht seine demokratische Variante gemeint,sondern die Symbiose von beidem. So werden auch Grundrechte und Gewaltenteilung, insbesondere die Unabhängigkeit der Gerichte, heute häufig als unverzichtbare Bestandteile des Rechtsstaates gesehen. In modernen Konzepten des «Rule of Law» ist, etwas abgeschwächt, ein ähnlicher Trend erkennbar. Aber auch klassische formale Regeln werden weiterhin hervorgehoben: die Ãffentlichkeit von Gesetzen; Klarheit und Stabilität der Rechtsordnung; die Transparenz von Verfahren.
So pendelt die Vorstellung vom Rechtsstaat bis heute zwischen zwei Polen. In einer emphatischen und normativen Sicht ist er eine Ausdrucksform von Demokratie, ihrer institutionellen Gestalt ebenso wie ihres praktischen, den Menschen alltäglich begegnenden Vollzugs. Darin kann man eine Kontinuität der klassischen republikanischen Emphase des 18. Jahrhunderts sehen, aber auch eine dezidiert moderne Verschiebung. Denn mit diesem Begriff wird gewissermaÃen behauptet: Unterhalb einer Demokratie fangen wir mit dem Rechtsstaat gar nicht an, zumal nach den Diktaturerfahrungen des 20. Jahrhunderts. Genau dieselben Erfahrungen rechtfertigen aber auch weiterhin ein bescheideneres Konzept des Rechtsstaates. Er wäre dann Vorstufe und Vorbedingung weitergehender Demokratisierung, eine Minimaldemokratie sozusagen, die noch vor der Volkssouveränität oder einem funktionierenden Parlamentarismus wenigstens die Menschenrechte achtet, individuellen Rechtsschutz und die Abwesenheit von Willkür garantiert; also eine Grundausrüstung humanen Regierens. Der Rechtsstaat darf damit nicht zum Demokratieersatz werden. Aber er stellt den Individuen jene Grenze bereit, die schon Montesquieu als unverzichtbar für die Erhaltung von Freiheit erkannte.
7 Religionsfreiheit:
Grenzen des Staates, Freiheit des Gewissens
Am Ende des 20. Jahrhunderts schien Religion nur noch eine Nebensache in Konflikten um Freiheit und Demokratie zu sein, besonders aus europäischer Sicht. Doch seit der Jahrtausendwende haben sich religiös-politische Auseinandersetzungen wieder zugespitzt. Die Herausforderung der westlichen Kultur durch fundamentalistische Varianten des Islam spielt dabei eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle. Die Migration von Muslimen nach Westeuropa und Nordamerika hat diese Gesellschaften religiös vielfältiger gemacht, und ihnen dabei zugleicheinen Spiegel der eigenen, überwiegend christlichen Religionskultur vorgehalten. Das Verhältnis von Staat und Religion wird neu diskutiert, die Säkularität des Staates neu interpretiert: sowohl im Sinne einer schärferen Grenzziehung als auch im Sinne einer
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