Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was ist Demokratie

Was ist Demokratie

Titel: Was ist Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nolte
Vom Netzwerk:
aktive Wahlrecht besaßen nur Männer,die mindestens 300 Francs an jährlichen direkten Steuern zahlten und mindestens 30 Jahre alt waren. Das galt, bei einer Bevölkerung von etwa 30 Millionen, für weniger als 100.000 Personen. Für das passive Wahlrecht galt sogar ein Zensus von 1000 Francs.
    In der konservativen Stimmung der Restaurationszeit sattelte das Gesetz über das doppelte Stimmrecht im Jahre 1820 sogar noch eine andere Ungleichheit auf den Zensus. Das nach der Steuerkraft oberste Viertel der Wähler durfte in einem komplizierten System gestufter Wahlen zusätzliche Abgeordnete in das Parlament schicken, so dass sich Zensus und ungleiches Klassenwahlrecht verknüpften. Nach der Julirevolution von 1830 fiel die Grenze für das Stimmrecht auf 200 Francs; in bestimmten Fällen konnte sie auch darunter liegen; wählbar war man jetzt ab 500 Francs direkten Steuern. Die Februarrevolution von 1848, die den 1830 zunächst emphatisch begrüßten «Bürgerkönig» Louis Philippe vom Thron stürzte und die Zweite französische Republik ausrief, beendete diese Ungleichheiten und schaffte den Zensus ab: Seit 1848 galt in Frankreich das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht; aus zuletzt etwa 250.000 Wählern wurden auf einen Schlag neun Millionen.
    Die Geschichte des Zensuswahlrechts in den USA zeigt, dass Landbesitz und Steuerkraft im späten 18. und frühen 19.Jahrhundert sogar wichtigere Kriterien sein konnten als Geschlecht und Hautfarbe. So durften nach einem Gesetz von 1777 in New Jersey auch einige Frauen wählen, sofern ihr Besitz die Zensushürde überstieg. Da Frauen nach dem Common Law jedoch mit der Heirat ihre Rechts- und Besitzfähigkeit weitgehend einbüßten, galt das vor allem für einige Witwen – und nicht länger als bis 1807. Denn in diesem Jahr wurde der Besitzzensus bis auf eine niedrige Steuerhürde abgeschafft und somit ein sehr breites Wahlrecht für weiße Männer geschaffen. Gleichheit ohne Zensus für Männer, aber ein rigiderer Ausschluss von Frauen: Diese Entwicklung war für das frühe 19. Jahrhundert nicht untypisch. Bis etwa 1830 fielen in den meisten Staaten der USA Wahlrechtsbeschränkungen für weiße Männer, ob sie auf Landbesitz, Steuerkraft oder auf dem Dienst in der Miliz gegründet hatten. Dabei spielten die neu aufgenommenen, gerade von der europäischen Besiedlung erschlossenen Staaten Indiana oder Illinois im Westen eine wichtige Rolle. Denn sie verzichteten oft von vornherein auf einen Zensus, weil sich eine reiche Oberschicht dort ohnehin noch nicht etabliert hatte und ihr offenes Wahlrecht ein Vorteil im Werben um neue Siedler zu sein versprach. Dort konnte man sogardas Wahlrecht erhalten, ohne schon amerikanischer Staatsbürger geworden zu sein.
    Bis 1860, gerade vor dem Beginn des Bürgerkriegs, hatten auch die letzten der konservativen «alten» Südstaaten wie Virginia nachgezogen und den Zensus abgeschafft. Von marginalen Ausnahmen abgesehen galt ein allgemeines und gleiches Wahlrecht für die weißen Männer. In fünf Staaten Neuenglands waren sogar schwarze Männer – freie natürlich, keine Sklaven – wahlberechtigt, während anderswo, dem Muster des Frauenwahlrechts in New Jersey folgend, die Ausweitung des weißen Wahlrechts mit dem klareren Ausschluss der Afro-Amerikaner Hand in Hand ging. Der Staat New York wiederum führte mit der Gleichheit der weißen Männer einen extrem hohen Zensus für schwarze Männer neu ein! Nur selten kam es über die Wahlrechtsreformen zu heftigeren Konflikten, wie in einer Beinahe-Rebellion in Rhode Island 1841. Die Abschaffung des Zensus folgte einem breiten Trend, auch deshalb, weil sich am Anfang des 19. Jahrhunderts noch kein industrielles Proletariat gebildet hatte, das als Schreckbild einer Pöbelherrschaft hätte dienen können. Aber heftig gestritten wurde zwischen den Parteien doch, wobei die Republikaner um Jefferson meist die mehr egalitäre Position vertraten.
    In Deutschland wurde das preußische Dreiklassenwahlrecht zur bekanntesten und wirkmächtigsten Form eines Wahlzensus. Während der ursprüngliche Zensus, als eine (Land-)Besitzschwelle, in vorkapitalistischen Verhältnissen wurzelt, war ein Klassenwahlrecht häufig die Reaktion auf neue, kapitalistische Formen der Ungleichheit. Nicht zufällig ist die preußische Variante 1845

Weitere Kostenlose Bücher