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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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Eine juckende Stelle, die man nicht kratzen kann.
    Ich stehe auf und stapfe ins Bad. Suche den Lichtschalter, finde ihn. Die Röhren über dem Badezimmerspiegel flackern, als wollten sie sich mit aller Macht dagegen wehren, mir etwas Licht zu machen. Schließlich geben sie nach, es
ist hell und weiß. Die Lüftung beginnt leise zu surren. Das Bad hat kein Fenster. Ich betrachte mein Gesicht. Es sieht abgekämpft aus. Guten Morgen.
    Ob es wohl normal ist, so etwas zu träumen?
    Oder muss ich mir langsam Sorgen um meinen Geisteszustand machen?
    Ich meine, andere träumen vielleicht noch viel Schlimmeres. Wenn Flos Vater, zu dem er diese innige Beziehung hat, anscheinend immer gehabt hat und wahrscheinlich immer haben wird, jetzt zum Beispiel sterben würde, wie wäre das dann für Flo, was für Geister würden ihn des Nachts heimsuchen?
    Ich stelle die Brause an und mich darunter, seife mich ein und sehe meinem gelben Strahl zu, wie er sich vorm Abfluss mit dem Wasser und dem Schaum der Duschcreme vermischt. Eine Fingerspitze Duschzeug reibe ich mir sogar in die Nasenlöcher, um den fiesen Geruch herauszuspülen.
    Das Furchterregendste auf der Welt ist, wenn einen etwas fertigmacht, das gar nicht wirklich existiert, und man weiß, dass es nicht existiert, und trotzdem macht es einen fertig.

    Ich öffne die Tür der »Moselterrasse«, durchquere den Flur und setze einen vorsichtigen Schritt in den Speiseraum. Ein etwa sechzehnjähriges Mädchen in einer grünen Schürze wischt mit dem Rücken zu mir den gefliesten Boden.
    Ein Mann mit einem roten Gesicht und Doppelkinn kommt auf mich zu. Es ist derselbe, der als großer Pappaufsteller im Vorraum steht. Als Pappaufsteller spielt er eine
Ziehharmonika und lacht und hat eine Sprechblase, in der steht: »Hereinspaziert! Hereinspaziert!«
    In echt hat er die Augen zu zwei bösen Schlitzen zusammengezogen und sieht aus, als würde er jeden Moment einen Herzschlag erleiden.
    Â»Ja, bitte?«
    Â»Entschuldigung, kann ich bei Ihnen noch Frühstück bekommen?«
    Er mustert mich von oben bis unten und schüttelt langsam den Kopf, mit einem Blick, als hätte ich ihn gefragt, ob seine Tochter vielleicht Bedarf an einer schönen Portion Crystal Meth hat.
    Â»Nichts zu machen.«
    Er redet durch die Nase, wie Starfriseur Udo Walz, den ich immer sofort erdrosseln möchte, wenn ich ihn irgendwo reden höre.
    Â»Wissen Sie denn vielleicht, wo ich noch …«
    Â»Junger Mann, guckense mal auf den Tacho!«
    Walz wirft den Blick auf eine imaginäre Armbanduhr und dreht sich um. Das Mädchen steht mit dem Wischmopp in der Hand mitten im Raum und starrt mich an. Sie ist spindeldürr. Ihre Augen sitzen wie Fremdkörper in einem knochigen Gesicht.
    Als ich die Tür hinter mir zufallen lasse, höre ich, wie sie lautstark zusammengestaucht wird.
    Â»Anja, muss das sein? Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, dass …«
    Leute mit solch lächerlichen Stimmen sollten nicht rumschreien. Leute mit solchen Gesichtern sollten keine Pappaufsteller von sich selbst aufstellen. Leute mit solchem Charakter sollten nirgendwo Chef sein. Es sollte sie am besten gar nicht geben.

    Ich sehe auf die Uhr meines Mobiltelefons. Es ist kurz vor elf. Meistens liege ich um diese Zeit noch im Bett. Hier kriege ich nicht mal mehr Frühstück.
    Â 
    Der Bürgersteig endet abrupt an einer hervorstehenden Häuserwand, also laufe ich auf der Straße weiter, die ungefähr so breit ist wie ein durchschnittlicher Bürgersteig in Berlin.
    Jedes zweite oder dritte Haus bietet Gästezimmer, Ferienwohnungen oder den Weinverkauf aus eigenem Anbau an. An jeder Straßenecke sind Wander- und Radwege ausgeschildert.
    Nirgendwo liegt Müll herum. Keine Zigarettenstummel. Keine Hundescheiße. Verrückt.
    Ein Postauto überholt mich langsam und vorsichtig. Der Mann am Steuer grüßt mich mit einem Kopfnicken. Ich nicke zurück und überlege, ob ich den Fahrer von irgendwoher kennen könnte. Was natürlich totaler Unsinn ist. Hier grüßt man sich offenbar einfach so auf der Straße.
    Ein paar Rentner schlendern pfeifend eine steile Gasse hinauf, und der dicke Junge von gestern kommt mir auf seinem großen roten Damenfahrrad entgegen. Er trägt immer noch sein rotes T-Shirt und macht immer noch Ballergeräusche mit dem Mund, aber diesmal hat er Publikum: ein kleines Mädchen,

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