Was kostet die Welt
Spaziergangs durch Renderich hat sich meine Wahrnehmung komplett verschoben. Alles, was gestern noch pittoresk erschien, wirkt plötzlich beklemmend. Alles, was schön war, ist jetzt nur noch bedrohlich.
Hinter den Gardinen der schweigenden Häuser vermute ich tausend Augen, die mich auf Schritt und Tritt verfolgen. Tausend Augen, die alle miteinander verwandt sind. Düstere Visionen von inzestuösen Dorfzombies mit dunklen Geheimnissen und fiesen Folterkellern steigen in mir auf.
Ist der dicke Junge auf dem Fahrrad einer von ihnen?
Und dieser Mann im Postauto, hat der mir nicht irgendwie diabolisch zugezwinkert?
Und was ist mit Sofia Coppola?
Ich mache einen Schlenker um die Dorfkirche herum, vorbei am Denkmal für »Renderichs Helden«, zwischen 1939 und 1945 gefallene Soldaten, deren Namen unter dem Satz »Ihr seid nicht gestorben, ihr seid nur vorausgegangen« in den Stein gemeiÃelt sind. Vor mir liegt der Friedhof.
Er ist stufenförmig in den Hang eingelassen und verteilt sich auf drei oder vier Ebenen. Viele der Namen auf den Grabsteinen habe ich schon an den Schildern der Ferienwohnungen im Dorf gesehen. Weingärtner, Loosen, Jung, Georg, Schäfer. Auch eine Arend liegt dort. Die meisten sind ziemlich alt geworden, einige Geburtsdaten stammen aus den 1920ern. Blutjunge Opfer rivalisierender Jugendgangs werden in dieser Gegend wahrscheinlich eher selten bestattet.
Ich setze mich im Schatten einer kleinen Kapelle auf eine Bank. Der Wind wird stärker und frischer, der Himmel zieht sich langsam zu.
Am anderen Ende des Friedhofs steht eine Frau und gieÃt die Blumen auf verschiedenen Gräbern. Ab und zu schaut sie misstrauisch zu mir rüber.
Was macht dieser unbekannte Mann da?
Ich frage mich ebenfalls, was ich hier eigentlich mache. Wieso zieht es mich seit neuestem so oft auf Friedhöfe?
In den letzten Monaten bin ich ständig auf welchen gelandet. Meistens per Zufall. Ich war morgens auf Friedhöfen, tagsüber und nachts. Ich habe Fotos geschossen, im Gras gesessen, gesoffen und Drogen genommen. Ich hatte sogar mal Sex auf einem Friedhof.
Genaugenommen war es nur die Friedhofsmauer, aber immerhin von innen. Bei einer Party am Südstern. Sie müsse kurz um den Block, ob ich sie begleiten wolle. Wir küssten uns im Schein der StraÃenlaterne. Sie griff mir zwischen die Beine, öffnete meine Hose und zog mich auf die andere Seite der Mauer, wo sie sich umdrehte, ihren Rock hochhob und ihren Hintern gegen meine Erektion drückte. Ich weià nicht mal, wie sie hieÃ. Kam aus Bayern, glaube ich. Ich hab sie seitdem nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich
war sie nur zu Besuch in Berlin. Nach zwanzig Minuten waren wir zurück, es hatte nicht mal jemand gemerkt, dass wir weg gewesen waren. Auf dem Klo rubbelte ich mit einem feuchten Handtuch die Flecken von meinem T-Shirt.
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Aber da waren auch Gottesäcker in Polen, Schweden, Israel, Marokko und den USA. Der in Krakau war der bunteste von allen. Auch dort landete ich unabsichtlich. Ich musste nach all den Kirchen und Plätzen und Frauen endlich mal wieder etwas Nichthübsches sehen, also nahm ich die Linie 4 Richtung Nowa Huta, blieb aber bis zur Endhaltestelle sitzen, weil ich pissen musste und man sonst nirgends pissen konnte. Ich ging ein paar Meter durch den Schnee und blieb wie angewurzelt am Friedhofstor stehen. Ein Meer aus Gräbern breitete sich in alle Himmelsrichtungen vor mir aus. Blumen, Kränze, bunte Lampen, Madonnen und Jesusstatuen, so weit das Auge reichte. Der Blumenladen lag direkt neben dem Friedhofstor, er muss eine wahre Goldgrube sein. Man macht dort an einem Sonntagnachmittag wahrscheinlich mehr Umsatz als das Radetzky an allen Samstagabenden des Jahres zusammen. Ich verdrückte mich in eine Ecke an den Zaun und pinkelte ein tiefes gelbes Loch in den Schnee.
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In Tanger verlieà ich die Medina und stand plötzlich auf einem Felsen über dem Meer, der von lauter kleinen Badewannen durchsetzt war. Es waren mal Gräber von Phöniziern gewesen. Nun schwammen Coladosen und Zigarettenstummel darin. Ich war bedröhnt von Kiff und diesem irre süÃen Minztee. Der Wind flatterte mir um die Ohren. Links lag der Atlantik, vor mir das Mittelmeer, und auf der
anderen Seite konnte ich schwach die Berge Andalusiens sehen. Ich war das erste Mal auÃerhalb von Europa und dachte: Näher kann man wohl nicht an Europa sein, ohne in Europa zu
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