Was macht der Fisch in meinem Ohr
nach den Regeln für die Aussprache von italienischer Schrift (laut oder still für sich im Kopf) spricht. Prisencolinensinainciusol ol rait , das man auf vielen heute erreichbaren Websites findet – in manchen Fällen sogar in einer von mehreren möglichen Transkriptionen –, ist eine für das Italienische spezifische Fiktion des Fremden.
In gleicher Weise kann man Kauderwelsch produzieren, das für englische Ohren fremd klingt. Ein berühmtes Beispiel ist der von Charlie Chaplin in Moderne Zeiten (1936) gesungene Song. Nachdem er einen Job als singender Kellner gefunden hat, steht der Pechvogel gerade in dem Moment auf der Tanzfläche des Restaurants, als die Band einen Schlager aus dem französischen Varieté, Je cherche après Titine , heraushaut, dessen Text er aber nicht kennt. Chaplin tanzt, gestikuliert, schaut verdutzt. Paulette Goddard, die in einem Nebenraum steht, spricht ihm stumm Mut zu: »Sing! Never Mind the Words!« Der Zwischentitel bestätigt, was wir ihr an den Lippen abgelesen haben: Sing! Egal was!
Nun hebt Chaplin in einem generischen Einwanderer-Romanisch zu einem Liedchen an, das für englische Muttersprachler nur wie folgt wiedergegeben werden kann:
Das klingt wie Französisch – oder Italienisch oder vielleicht Spanisch – für einen Engländer, der diese Sprachen nicht beherrscht, sondern nur den ungefähren Klang französischer (oder italienischer oder spanischer) Laute im Ohr hat. Die Strophen ergeben keinen Sinn, und nur wenige Wörter gibt es auf Französisch (Italienisch, Spanisch) wirklich. Das Entscheidende ist: Auch wenn das, was man sagt, keinen Sinn ergibt, kann es fremd klingen. Die Hellenen erkannten das Fremde an dem unartikuliert klingenden, mit offenem Munde geplapperten va-va-va , weswegen alle des Griechischen nicht mächtigen Sprecher für sie varvaros , Barbaren, waren, Bla-bla-Schwätzer. Fremd zu klingen heißt, Kauderwelsch von sich zu geben, nicht sonderlich helle oder gleich dumm zu sein: Das russische Wort für einen Deutschen ist немец , abgeleitet von немой , »stumm, sprachlos«, und wurde in einer älteren Form des Russischen für alle Nicht-Russisch-Sprecher verwendet.
Seit den achtziger Jahren jedoch sind zahlreiche Klassiker der europäischen Literatur neu ins Englische und Französische übersetzt worden, deren Übersetzer sich ausdrücklich dazu bekannten, dass die ihren Lesern vertrauten Werke, Schuld und Sühne etwa oder Die Verwandlung , nun fremder klingen sollten – und damit war gewiss nicht gemeint, diesen Büchern ihre Sprache zu nehmen.
Übersetzer des 19. Jahrhunderts ließen geläufige Wörter und Wendungen häufig in der Originalsprache (meistens freilich, wenn das Original Französisch war), ein Mittel, das heute bei Neuübersetzungen ins Englische aber nur selten Anwendung findet, sosehr sie auch »fremdeln« wollen. Als Gregor Samsa eines Morgens erwacht und feststellt, dass er sich über Nacht in ein Ungeziefer verwandelt hat, ruft er in keiner modernen englischen Version: Ach Gott! ; und auch Iwan Fjodorowitsch sagt in keiner derzeit lieferbaren Übersetzung der Brüder Karamasow : Зто вот как . Handelte es sich um französische Romane und wären sie nach den Konventionen der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts ins Englische übersetzt worden, hätten in der englischen Übersetzung Gregor Samsa mit großer Wahrscheinlichkeit Oh mon Dieu! und Iwan Fjodorowitsch Alors, voilà gesagt.
Die Dinge haben sich verändert, nicht im Französischen, Deutschen oder Russischen, sondern im Englischen. Heute wird von englischen Lesern nicht erwartet, dass sie in Dialogen Interjektionen wie »Du lieber Gott!« oder »Na dann« erkennen, wenn sie auf Deutsch oder Russisch gesagt werden, wohingegen gebildeten Lesern Großbritanniens zur Zeit Königin Victorias oder König Edwards VII. französische Ausdrücke dieser Art geläufig waren.
Es kann einem echten erzieherischen und sozialen Anliegen dienen, wenn Elemente des Quelltexts in die Übersetzung übernommen werden. Das ermöglicht Lesern, sich anzueignen, was sie in der Schule nicht gelernt haben, oder ihr Gedächtnis aufzufrischen und Halbvergessenes zu reaktivieren. Werden originalsprachige Ausdrücke in begrenzten und unmittelbar verständlichen Sprechsituationen beibehalten, bei Grußformeln oder Ausrufen etwa, kann das Lesern sehr wohl etwas vermitteln, was sie sich von der Lektüre eines übersetzten Buchs erhoffen: den unbestimmten Eindruck, einen französischen
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