Was man so Liebe nennt
genau.«
Emma zog die Knie aufs Polster hoch und stützte ihr Kinn auf den Daumen. Joe fiel auf, daß die Schnürsenkel in ihren Turnschuhen viel zu lang waren, was die vier enormen Schleifen erklärte. »Also gut«, sagte sie und wies aufs Schaufenster. »Was läuft sonst noch?«
»Wie?«
»Das hier will ich nicht sehen. Ich hasse diese Dokumentarfilme über normale, gewöhnliche Leute.«
»Ach so — na ja, nun...«, sagte Joe ziemlich hölzern, verdutzt, in welcher Situation er sich befand, aber gleichzeitig von ihr mitgerissen. »Ähhm... wo ist die Fernbedienung?«
»Weiß ich nicht. Guck doch selbst, eh du mich fragst.«
Joe lächelte: »Haben Sie zufällig schon mit einem Mann zusammengelebt?«
»Nicht aus der Rolle fallen«, flüsterte Emma. Dann lauter: »Was möchtest du zum Abendessen? Ich könnte Spaghetti machen, oder wir können uns ein Takeaway holen...«
»Ja, gute Idee... ich kann ja nachher zum Chinesen runtergehen.«
Wieder trat Schweigen ein. Joe spürte eine leichte Panik in sich aufsteigen, denn er wußte, daß er nicht das Zeug hatte für diese Art Improvisation. Ziemlich hilflos blickte er zu Emma hin, die ihm unauffällig zublinzelte.
»Lassen Sie Ihr Ohr in Frieden«, flüsterte sie wieder. Joe nahm seine Hand herunter und wurde rot.
»Mir scheint, wir haben etwas übersprungen«, fuhr sie nach einer nachdenklichen Pause fort.
»Wie...?«
»Ich meine — kommen wir schnurstracks zur Häuslichkeit? Sind wir gleich mittendrin in der Abend-für-Abend-Gemütlichkeit? Was ist mit den drei Monaten hemmungloser ungezügelter Leidenschaft?«
Joe glaubte in die Sofapolster zu versinken. »Nur um das Sofa auszuprobieren?«
Emma sah ihn streng an. »Ich gehe immer methodisch vor.« Dann blickte sie zum Schaufenster hinaus; der Straßenmusikant, ein bärtiger, schlaksiger Gitarrist in Kampfanzug und Baskenmütze, kam über die Straße geschlendert, einen deprimierten Ausdruck im Gesicht.
»Und außerdem, wie sollen wir die Show sonst beenden?« sagte Emma, beugte sich zu ihm hinüber und küßte ihn auf den Mund, öffnete dabei leicht ihre Lippen, um ihm Zugang zu jenen so erfreulich menschlichen Zähnen zu gewähren. Sofort brach in der Menge draußen spontaner Applaus aus; und aus den verdutzten Wahrnehmungszentren seines Hirns meinte Joe den stummen Zuruf »Mach weiter, Junge!« zu hören. Joe schloß die Augen und wollte für alle Ewigkeit in dem dunklen See ihres Kusses schwimmen, aber dann schrillte eine Klingel und verkündete, wie es Schellen nun mal tun, das Ende der Spielpause.
»Em! Was zum Teufel...?«
Emma löste sich langsam von Joe, ignorierte Paul, den Besitzer von Chaise, der gerade durch die klingelnde Ladentür getreten war, ignorierte die immer noch klatschende und lachende Menge, ignorierte alles außer dem sich in ihre Augen versenkenden Blick ihres zukünftigen Gatten. In seinen explodierenden Pupillen sah sie zwei winzige Bilder ihres lächelnden Gesichts gespiegelt.
»Und jetzt rat ich dir bloß, daß du das verdammte Ding auch kaufst«, sagte sie.
TESS
T ess hatte manchmal das Gefühl, sie sei ein in einem Frauenkörper geborener Mann. Was nicht hieß, daß sie in sexuellem Zwiespalt lebte oder ihr gar nach Geschlechtsumwandlung war — im Gegenteil, was ihre genitalen Interessen betraf, so war sie immer von der männlichen Ausstattung angezogen und regelrecht fasziniert gewesen. Aber, auch auf die Gefahr hin, wie Kenny Rogers zu klingen, es gehört mehr dazu, ein Mann oder eine Frau zu sein.
Bei Tess war es eine Frage des Humors. Und das ist in unserer Zeit keine unbedeutende Sache. Humor ist heute der modus operandi aller menschlichen Kommunikation, das Hauptmedium, durch das wir Freunde gewinnen und uns erhalten: Jede Einschätzung anderer beginnt und endet mit der Frage, wie verträglich ihr Sinn für Humor mit dem unsrigen ist. In früheren Zeiten hätte eher Geld diese Rolle gespielt oder Status, Kleidung, Auftreten oder gar, Gott steh uns bei, moralische Integrität. Aber das ist heute alles nichts im Vergleich zum Humor. Heutzutage ist der Narr König, wobei nette Anekdoten oder platte Witze allerdings mehr als Lepra dazu angetan sind, einen aus der Gesellschaft auszuschließen.
Tess war eine Frau, die mit einem männlichen Sinn für Humor geboren war. Sie hatte einen bissigen, manchmal brutal scharfen Humor, den sie so tief verankert wie in ihr ansonsten nur bei Männern fand.
Was der Grund dafür war, warum Tess keine wirklichen Freundinnen
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