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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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Waggon war das mißbilligende Räuspern und Schnauben der anderen Fahrgäste zu hören. H. M. Bateman hätte sich im Grabe herumgedreht bei dem Gedanken, daß er die Chance verpaßte, das Ganze zu karikieren. Selbst das Rattern des Zugs über die Gleise klang wie ein einziges »Pfui-pfui«.
    Tess konnte nur staunen. Gewiß, sie hatte zu Vic gesagt, sie wolle noch ein bißchen in Frankreich bleiben, weil England durchknallen würde, aber daß es dermaßen durchknallte, hatte sie nicht gedacht. Tatsache ist, wenn ein Land von irgendwas besessen ist, gleich wovon, kann man das Ausmaß vom Ausland her nicht einschätzen, nicht wirklich, nicht aus dem Bauch heraus. Sie hatte Bilder im französischen Fernsehen gesehen und die endlosen Volkesstimmen über sich ergehen lassen, aber angenommen, daß das Übertreibungen waren, Reporterglück, das zutiefst aufgewühlte Leute vor die Kamera bekam, deren eigene Neurosen zu dramatisch überhöhten Reaktionen auf Dianas Tod führten. Selbst die Franzosen hatten Dianas Tod nicht gleichmütig aufgenommen. Im Gegenteil, als Engländerin in Frankreich hatte sie in den gedämpften Stimmen und gesenkten Augen überall um sie herum jene Aura höflicher Anteilnahme gespürt, die bei Beerdigungen auch auf jene Leute ausgedehnt wird, die nicht zu den nächsten Angehörigen des gerade Verstorbenen gehören. Diese Behutsamkeit hatte Tess darauf zurückgeführt, daß die Franzosen ja auch eher weitläufige Verwandte waren. Jedenfalls hatte sie geglaubt, wenn sie nach England zurückkam, würde sie feststellen, daß die meisten Leute — abgesehen natürlich von den vorhersehbaren Ergüssen von Plebs-Kummer — denken würden wie sie und daß sie überall auf Gleichgesinnte stieße, mit denen sie sich über das Ganze lustig machte.
    Wie sehr sie sich geirrt hatte. Während der Zug nonstop weiter und weiter durch England sauste, immer näher auf London zu, hatte Tess das Gefühl, daß sie in der Falle saß. Vor ein paar Minuten noch war ihre Reise eine Heimkehr gewesen, mit all dem Trost und der Sicherheit, die das bedeutet; ohne jede Vorwarnung hatte sie jetzt den Charakter eines Alptraums angenommen, einer von denen, wo man im falschen Zug zum falschen Bahnhof fährt, nicht weiß, wie es passiert ist oder wie man seinen Fehler korrigiert; nur eins weiß man ganz genau: daß es kein Entrinnen gibt. Sie erwog sofort, sich aus dem Zugfenster zu stürzen und durch den Tunnel zurückzulaufen, durch die Dunkelheit ans Licht, fort von dem Wahnsinn. Aber als die kantige Frau in Tränen ausbrach, gewaltige körperschüttelnde Schluchzer, die die ganze Reise unterdrückt worden waren, knüllte Tess einfach die Zeitung zusammen und steckte sie wieder in ihre Tasche. Sie lebt , dachte Tess wieder, als das Wolkengesicht verkrumpelte. Sie lebt : Die Leute lechzten danach, daß die Sterne es sagten, mußten sich aber, wie immer, damit zufriedengeben, daß der Star es sagte.

VIC

    A ls Vic jünger war, stellte er sich gern vor, daß er irgendwelche Krankheiten hätte. Manche Krankheiten fand er wirklich cool, besonders alte wie Skorbut, Rachitis, Skrofeln, Schwindsucht — allein der Klang gefiel ihm, diese handfesten, schnarrenden Sechzehntes-Jahrhundert-Konsonanten; so eine Krankheit zu haben verbreitete irgendwie eine erhabene Aura, wie ein altes vergilbtes Foto, mW weckte bei anderen auf der Stelle die Spendierlaune, weil ja klar war, daß man nicht gesund genug ernährt war. Am liebsten spielte Vic mit dem Gedanken an einige der wirklich finsteren dicken Hämmer, am besten solche, die sich endlos in die Länge zogen, aber nicht unbedingt tödlich endeten — Multiple Sklerose, das war ziemlich sexy und hatte dazu noch Richard Pryor als Sponsor, obwohl nicht so sexy wie Motoneuronenkrankheit, die nach einem verdammten Ferrari klang. Motoneuronenkrankheit fand Vic wirklich stark: wie Stephen Hawking zu sein, ein archetypischer, poetischer Kontrast zwischen geistiger Kraft und körperlichem Verfall, und außerdem kriegte man noch einen dieser großartigen Stimmsimulatoren!
    Epilepsie war auch nicht schlecht (schon in der Antike galt sie was: Hippokrates nannte sie »die heilige Krankheit«). Epilepsie roch irgendwie nach Drogen, wie ne Rockstar-Krankheit, Jim Morrison hatte sie und Ian Curtis (Ian Curtis tanzte dazu). Und der Top-sexy- Punkt: Epilepsie erinnerte mehr als nur eine Spur an dämonische Besessenheit. Alles Zuckige und Zappelige fand Vic sowieso gut, aber seine perversere Seite neigte dazu, den

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