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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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Diaspora verstreuten Frauen vor sich zu haben. Und als die Frau dann auch noch über der Zeitung zu schniefen begann, beschloß Tess, aufs Ganze zu gehen und sie anzusprechen.
    »Sie regen sich über das da auf. Aber haben Sie das schon gesehen?« sagte sie über den Tisch hinweg und zog ein Exemplar des Star aus ihrer Tasche. Als sie an der Gare du Nord in den Zug gestiegen war, hatte sie die von einem englischen Fahrgast liegengelassene Zeitung auf ihrem Sitz gefunden. Die ganze Titelseite war vom Foto einer riesigen Wolke bedeckt, deren linken Rand das glühende Sonnenlicht dahinter wie ein Fleiligenschein umgab. AlsTess ihren Koffer ins Gepäcknetz hob, war ihr Blick auf die zerknitterte Zeitung gefallen, die zusammen mit anderen, vor roten Großlettern berstenden Boulevardblättern auf dem Sitz lag; sie hatte einen Moment gezögert und sie dann in ihre Schultertasche gesteckt, weil sie sich sagte, daß Vic, dessen bevorzugtes Blatt der Mirror war, das hier wahrscheinlich nicht gesehen hatte.
    Tess hielt die Zeitung hoch. Die Frau sah vom Observer auf, schüttelte leicht den Kopf, so als sei sie unsicher, ob sie gemeint sei. Der liebevoll über die Waggonausstattung kreisende Blick des Eurostar-Angestellten kam bei ihnen ins Stocken. Sie waren gerade durch den Tunnel gefahren und auf englischem Boden.
    Die Titelseite — ein Foto des Himmels, angeblich am Tag der Beerdigung aufgenommen — trug die Schlagzeile DI IN THE SKY. Die Wolke hatte die Form von Dianas Gesicht. Und tatsächlich, es stimmte, das war ihr Profil — großnasig und elegant, eingerahmt von leuchtendem Blau. Jaah, die Wolke sah wirklich aus wie Dianas Gesicht.
    »Gucken Sie mal!« sagte Tess lächelnd. »Sie lebt noch! Als Regenwölkchen !«
    Die Frau starrte sie weiter an, aber im Spiegel ihres Gesichts sah Tess keinen Reflex ihres eigenes Lächelns. Die Augen des Eurostar-Angestellten, bis zu diesem Punkt so mit sich und der Welt im reinen, schossen plötzlich unruhig hin und her; offenbar fürchtete er, die anderen im Waggon könnten zu ihrem Tisch hinblicken.
    »Wie bitte?« sagte die Frau schließlich, und Tess wurde leicht flau im Magen, wie einem Kind, das meint, es hätte eine wirklich schlaue Bemerkung zu einem Erwachsenen gemacht, und dann plötzlich merkt, daß es etwas wirklich Schlimmes, wirklich wirklich Schlimmes gesagt hat, ein Schimpfwort, von dem es nicht wußte, daß es eins war, oder nach einem Onkel gefragt hat, der mit einer jüngeren Frau durchgebrannt war, aber niemand hatte es ihm erklärt. »Sprechen Sie mit mir?«
    Die Stimme der Frau kam irgendwie krächzend heraus, zum Teil offenbar vor Schock, zum Teil aber aus einem viel verheerenderen Grund, der Tess klar wurde, sowie sie zu sprechen begann: Die ganze Zeit, während sie die Zeitung las, hatte die Frau versucht, ihr Weinen zu unterdrücken. Und was Tess als höhnisches Schniefen verstanden hatte, war in Wirklichkeit ihre Anstrengung gewesen, den Kloß in ihrer Kehle runterzuschlucken und die aufsteigenden Tränen, ehe sie in die Augen gelangten, in der Nase abzufangen.
    »Ja. Ich...«, stammelte Tess und erwog, sich zu entschuldigen, aber als ihr dann klar wurde, daß sie, wie Macbeth, schon in Blut watete und ein Rückzug genauso peinlich war wie voranzupreschen, zeigte sie mit dem Finger auf die Wolke. »Ich meine, wie mittelalterlich wollen wir denn noch werden?« Es entstand eine Pause, während der Tess’ Frage — eine gute — unbeantwortet blieb. »Was ist sie jetzt im Himmel? Welche Gottheit stellt sie dar?« machte Tess weiter und hielt wieder dieses Heiligenbild, dieses Revolverblatt-Turiner-Leichentuch hoch. »Die Göttin der Achtziger-Jahre-Frisuren? Der Fitness-Center-Cover-Girls? Der Fickerinnen dekadenter Aristokratenärsche?«
    Es war, nein, nicht als stünde die Zeit still, eher als zerschmölze sie: Alle Uhren lösten sich auf. Und dann brach die Hölle los — wirklich die Hölle.
    »Wie können Sie es wagen — was unterstehen Sie sich — was fällt Ihnen ein — ich kenne Sie nicht mal...« Die Frau mit dem kantigen Gesicht schien das alles zu sagen und ließ nichts aus dem Lexikon der Abscheulichkeiten aus. Der Eurostar-Angestellte war dunkelrot angelaufen, und der Botschaft seiner hin- und herschießenden Augen verlieh er jetzt weiteren Nachdruck durch dramatisches Halsverrenken — dies waren Worte, die nicht in der Öffentlichkeit gesprochen werden sollten, gefährliche Worte, Worte, die vielleicht mitgehört wurden. Durch den ganzen

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