Was man so Liebe nennt
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gutartig sei. Die Bilder traten ihr wieder vor Augen, waren jetzt aber bedrohlich. Emma spürte, wie allein das Wissen um die Diagnose sie dazu brachte, sich schon jetzt so zu sehen, wie es einst die Würmer tun würden. Während sie in den Seitenspiegel guckte, hatte sie das Gefühl, das Röntgenbild schöbe sich über ihr Spiegelbild, die verschwommenen Umrisse von Gewebe und Knochen überlagerten ihr Profil. Sie schüttelte das Bild ab, richtete den Blick wieder auf die sich nicht vom Fleck rührende Stoßstange vor ihr, war sich des Inneren ihres Kopfs aber immer noch mit grausamer Schärfe bewußt. Man kann sich natürlich zu jeder Zeit bewußt sein, was man in seinem Kopf hat — sich sozusagen heimisch fühlen dort, wie man es auf die gleiche Art bei keinem anderen Körperteil kann, etwa dem Knie oder dem Handgelenk oder, es sei denn, man ist sehr talentiert, in seinem Mund. Aber was Emma in ihrem Kopf fühlte, war im buchstäblichen Sinne greifbar und gegenständlich, so wie manchmal bei einem besonders schlimmen Kater, wenn das Hirn so ausgetrocknet ist, daß es einem vorkommt, als schabe es bei jeder Bewegung gegen die Schädeldecke. Sie konnte ihr Hirn förmlich fühlen, als hätte sie eine dritte Hand in ihrem Kopf, die mit den Fingern über dessen kröselige Konturen fuhr, wie ein Blinder, der einen Blumenkohl ertastet.
Sie war sich sicher, daß sie fühlen konnte, wie die Geschwulst gegen ihren Schädel drückte. Sie war in ihrem Stirnlappen, hatte Professor Dewar gesagt und ihr den ungefähren Bereich gezeigt, rechts über ihrer Stirn. Unwillkürlich sah sie jetzt in den Rückspiegel, nicht um den Verkehr hinter ihr im Auge zu behalten, sondern um zu sehen, ob ihr Kopf an dieser Stelle eine Ausbuchtung hatte, eine Comic-Heft-Beule, die das frenetische Wachstum von innen nach oben trieb. Die Stelle juckte irgendwie, aber nicht auf der Kopfhaut, wie es vielleicht passiert, wenn man das Haar nicht gewaschen oder Nissen hat. Das Jucken war innen in ihrem Kopf. Sie wünschte, die Hand dort drinnen würde daran kratzen, so als sei der Tumor ein Grind — so lange und so wild kratzen, bis es blutete.
Gegen Ende der Fahrt meldete der Verkehrsfunk, die Dulwich Road sei von Anfang bis Ende verstopft: meiden, wenn möglich. Das war für Emma wie der endgültige Schlag. Sie kannte keinen anderen Weg zum Rock Stop; außerdem wagte sie nicht, von der Route abzuweichen; nicht nur, weil sie mit Schreck daran zurückdachte, wie sie sich schon einmal verirrt hatte: Ihr neu erworbenes Mißtrauen gegen ihren Körper erstreckte sich auf alle ihre Sinne, von denen ihr Orientierungssinn nur einer war. Die orangenen und gelben Felder der aufgeschlagenen Straßenkarte auf dem Beifahrersitz prallten von ihren Augen ab wie Worte in einem komplizierten, unverständlichen Buch. Ausgeschlossen, einen anderen Weg zu suchen! Also fügte sie sich in die Unausweichlichkeit des Staus und bog, aufs Schlimmste gefaßt, in die Dulwich Road ein: Aber dann, entweder war der Verkehrsbericht falsch oder überholt, war ihr wie durch ein Wunder die Freude vergönnt — noch vor der größeren Freude, die vergleichsweise freie Straße hinunterzusausen — , durch ihre Strumpfhosen die Riffelungen des Gaspedals an ihrem unbeschuhten Fuß zu spüren. So gut funktionierten ihre Nervenzentren immerhin noch! Für ihren Termin bei Professor Dewar hatte sie sich ein Kostüm angezogen, gemeint, es sei passender als ihre übliche Latzhose, aber auch, obwohl sie das nie zugegeben hätte, weil sie herzzerreißender Weise glaubte, damit könnte sie ihre Chancen vielleicht verbessern.
Ihre Stimmung hob sich immens durch diesen kleinen Glücksfall. Es mag sonderbar erscheinen, daß es ihr einen solchen Kummer bereitet hatte, daran gehindert zu werden, dorthin zu kommen, wo sie wollte; man könnte ins Feld führen, daß in einem Verkehrsstau oder auch sonstwo zu stecken einem nur die Nerven raubt, wenn man unterwegs zu einem Vergnügungsort ist — einem Konzert, einem Fußballspiel, einer sexuellen Begegnung —, wobei der Frust allein der verlorenen Zeit gilt, die man sonst in Entzücken verbracht hätte. Es mag sonderbar erscheinen, weil Emma nicht unterwegs zu einem Vergnügen war. Sie war auf dem Weg zu ihrem Geliebten, um ihm mitzuteilen, daß sie Krebs hatte. Aber während sie an den Bordstein lenkte und achtlos auf der gelben Linie vor dem Rock Stop parkte, spürte sie trotz der in ihr aufsteigenden Angst vor
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