Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
unter einen niederhängenden Ast setzte, um sich auszuruhen, winkte die Alte ihm und einer Gruppe Kinder und führte sie hinter einige Felsbrocken. Im Halbschatten wuchs eine Pflanze, die entfernt an kärglichen und gelblichen Sauerampfer erinnerte. Sie begannen, die dicksten Stängel auszureißen, an denen die Blätter bereits welk waren, und bissen kräftig hinein. Narcisse spürte, wie ihm lauwarmer und süßlicher Saft die Kehle herunterrann. Seit er ausgesetzt worden war, hatte er nichts Süßes mehr geschmeckt, und eine heftige und plötzliche Lust trieb ihm Tränen in die Augen.
Ein ungefähr dreißigjähriger Mann, kräftig gebaut und mit einer Lanze bewaffnet, lief vorbei, ohne ihn zu beachten. Narcisse fiel seine entschlossene Haltung auf, und anders als die anderen mit ihren kurz geschorenen Haaren, trug er einen Pferdeschwanz. Dieser wurde von einer dünnen geflochtenen Liane und etwas anderem zusammengehalten. Narcisse war neugierig geworden, richtete sich auf und trat so nah an ihn heran, wie er sich traute. Ja, dort im Haar war ein dünnes kariertes Baumwollband, das einmal rosafarben gewesen sein musste, und jetzt grau und verblasst war.
Es war das erste Mal, dass er hier einen Gegenstand sah, der aus einer Manufaktur stammte. Er würde niemals erfahren, auf welchem Wege dieses Stück Stoff die Welt der Weißen verlassen hatte und zu Kopfschmuck geworden war, wie lange diese Reise gedauert und wie viele Stationen sie passiert hatte, durch wie viele Hände das Band in Freundschaft gewandert war, wie oft es verloren gegangen, geraubt oder gewalttätig in Besitz gebracht worden war. Narcisse zitterte plötzlich vor dem inständigen Wunsch, diese Reise rückwärts zu durchlaufen. Ohne zu überlegen, stellte er sich vor den Mann und sprach ihn an, dabei wies er mit eindrücklichen Gesten auf das Stoffband. Selbstverständlich verstand niemand, was er meinte, doch werweiß, vielleicht stellte der Mann einen Zusammenhang her zwischen dem bunten Band und diesem Weißen vor ihm? Beide gehörten nicht zu seiner Welt. Vielleicht erriet er alles? Vielleicht würde er hoffen, dass er, wenn er den Weißen wieder in dessen Welt zurückbegleitete, noch anderen Tand erhalten würde, um sich zu schmücken?
Narcisse gelang es nicht, sich zurückzuhalten, und er machte eine Handbewegung in Richtung Stoffband, fast war es eine zärtliche Geste, nicht, um es dem anderen wegzunehmen, sondern um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen. Das verblasste Stück Stoff wurde mit einem Mal zum Träger all seiner Hoffnungen. Wenn er es doch nur berühren dürfte, flehte er, wenn er es doch nur zu seinem Talisman, seinem Wegweiser auf der Reise zurück machen dürfte …
Der Mann wich einen Schritt zurück, diese weiße Hand, die sich zu seinem Nacken hin bewegte, erstaunte ihn mehr, als dass sie ihn ängstigte. War er sich des Stofffetzens schon gar nicht mehr bewusst, den er um seinen Pferdeschwanz gebunden hatte? Würde er damit einverstanden sein, ihn einfach wegzugeben?
Wie aus dem Nichts tauchte die Alte auf und stellte sich zwischen die beiden Männer, so als ob sie kurz davor wären, handgreiflich zu werden, und man sie trennen müsste. Sie begann eine lange Tirade, während der sie sich mit kurzen drohenden Sätzen mal an den einen, mal an den anderen wandte. Dann nahm sie Narcisse beim Ellenbogen und führte ihn weg.
So hatte sie sich noch nie verhalten. Er widersetzte sich nicht, sondern folgte ihr. Im Moment konnte er nicht mehr als diese flüchtige Annäherung erreichen. Die Bedeutung dieser Erkenntnis erschütterte ihn, er kam sich vor wie ein Gefangener, den in den Tiefen des Kerkers eine Nachricht erreicht hat, deren Sinn und Zweck sich ihm jedoch noch verschließt.
Mit klopfendem Herzen setzte er sich wieder unter den Baum. Der Mann mit dem Pferdeschwanz begab sich auf die Jagd, und bald verlor er ihn zwischen den Büschen aus den Augen. Die übrigen Mitgliederder anderen Familie hatten sich unter den Stamm gemischt oder schliefen. Vielleicht hatten auch sie …? Er musste sich Gewissheit verschaffen. Narcisse erhob sich, ging zwischen den Gruppen umher, um die neuen Gesichter ausfindig zu machen und ihre Haartracht, ihre Armgelenke, ihre Waffen und Körbe zu untersuchen. Doch nichts, kein Glas, Metall oder Stoff, kein einziger Gegenstand aus der Welt der Weißen.
Die Hoffnungen, welche durch den verblassten Stofffetzen geweckt worden waren, verflüchtigten sich. Doch was hätte es gebracht? Was hätte ein
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