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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Feststellung auf. In diesem unsäglichen Streit hat Narcisse, der weiße Wilde, sich zivilisierter gezeigt als Bill, der Sträfling.
    Wohin wird mich diese Feststellung führen? Mir scheint, es ist an der Zeit, in See zu stechen.
    Hochachtungsvoll …

5
    Als er am folgenden Morgen erwachte, ruhte die Alte nicht mehr an seiner Seite, und der Sturm war vorüber – sein Fieber hatte er anscheinend fortgeblasen. Er fühlte sich immer noch schwach, aber wach und entspannt. Er verspürte wieder Hunger, heftigen Hunger, und diese Banalität war fast schon erleichternd. Sein Ohr tat nicht mehr weh.
    Er stand auf und machte einige Schritte, ohne vor Schüttelfrost zu zittern. Als er zwei Frauen begegnete, legte er aus Scham die Hände vor sein Geschlecht. Staub und Erde – mit denen er von der Alten immer wieder bedeckt worden war – hatten sich mit den Ausdünstungen seiner Krankheit vermischt und eine rissige Kruste gebildet, die ihn bei seinen Bewegungen störte. Kinn und Wangen waren von einem juckenden Bart überwuchert, niemals zuvor hatte er sich so lange nicht rasiert. Sein gut getrimmter Schnurrbart, auf den er immer so stolz gewesen war, den er an Ruhetagen gepflegt und der ihm ein kühnes Aussehen verliehen hatte, war vom übrigen Bartwuchs wahrscheinlich nicht mehr zu unterscheiden …
    Er ging zum Tümpel, begab sich bis zum Bauchnabel hinein und säuberte sich, so gut es ging. Er fühlte sich erfrischt, seine Stimmung hellte sich noch weiter auf. Er rieb sich lange und gründlich mit den nackten Händen ab, so, als wolle er die Vergangenheit abwaschen. Beidiesen gedankenlosen Gesten kam er an sein linkes Ohr. Er war erstaunt über das, was er da fühlte, und betastete auch sein rechtes Ohr. Die bewegte Wasseroberfläche warf kein Spiegelbild zurück. Ohne sich sehen zu können, blieb ihm nur, beide Ohren zu berühren und erneut festzustellen, dass man ihm sein linkes Ohrläppchen fast vollständig abgerissen hatte.
    Und dennoch hatte ihn die Alte aus dem Stamm, welcher ihn verstümmelt hatte – für einen kleinen vergoldeten Messingring! –, gesund gepflegt. Sie hatte ihn umsorgt, an seiner Seite gewacht, ihm zu essen und zu trinken gegeben und ihn gewärmt. Ihre Gebete und Räucherzeremonien waren vielleicht nicht sehr wirksam gewesen, aber sie hatte alles versucht, um seine Wunde und das Fieber zu heilen. Ihr Verhalten verriet weder Mitleid noch Mitgefühl. Sie schien ohne große Emotionen eine Aufgabe zu verrichten, die ihr zugefallen war. Mithilfe der Alten kümmerte sich der Stamm auf seine Art um die Gesundheit des Fremden. Wenn sie ihn am Leben erhielten, um ihn zu verzehren, mussten sie ihn vor dem Festmahl noch ein wenig aufpäppeln. Narcisse war niemals dicklich gewesen, und Hunger und Krankheit hatten ihn regelrecht ausgezehrt. Doch vielleicht, so hoffte er, aßen sie kein Menschenfleisch.
    Langsam ging er zur Feuerstelle zurück und setzte sich nieder. Am Vorabend, als er während des Sturms vor Kälte gezittert hatte, war hier ein Tier von der Größe eines Kalbs gegart worden. Die Lendenknochen, an denen noch Fleisch hing, lagen im Sand verstreut. In der Nähe döste der alte Wilde, den er im Stillen Chef nannte. Er hob einen Knochen auf, wischte ihn, so gut es ging, ab und fing an zu essen. Das kalte sehnige Fleisch schmeckte stark nach Rauch. Nagend und kratzend schaffte er es, die fasrigen Überreste abzulösen. Ein kleiner Junge hockte sich neben ihn und sah ihm schweigend zu.
    Narcisse aß fast den ganzen Morgen, trank aus einem vergessenen Wassersack, schlief den Nachmittag über, lauschte abends den Gesängen rund um das Feuer und aß wieder, als die Alte ihm zu essenbrachte. In dieser Nacht fühlte er sich zum ersten Mal, seitdem man ihn zurückgelassen hatte, etwas weniger unglücklich.
    Am Morgen, nachdem jeder, wie und wann er wollte, aufgestanden war, bemerkte Narcisse im Treiben des Stammes eine Veränderung. Es gab keine Spiele, Spaziergänge oder Siestas mehr. Die Wilden zeigten sich aktiv, jeder kannte seine Aufgabe und ging ihr in aller Seelenruhe nach. Nur, mit welchem Ziel? Warum wurde dieser Ast fortgetragen, warum jenes Grüppchen gebildet, was wurde dort verhandelt, und warum flocht man aus Lianen Körbe und bedeckte die kalte Asche mit Steinen?
    Bevor die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte, versammelten sich Frauen und Kinder. Die Alte kam auf Narcisse zu, hielt ihm zwei gefüllte Wassersäcke hin und gab ihm zu verstehen, dass er diese tragen solle. Er zögerte

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