Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
bleiben und das Ende des Unwetters abwarten können.
«Die Kameraden hatten Mühe, und da musste man ihnen helfen.»
Der Kapitän, der sich bei ihm bedankte, erhielt keine ausführlichere Antwort.
Ich weiß also dreierlei über die Identität des weißen Wilden: den Vornamen Narcisse; den Beruf Matrose und den Ort Saint-Gilles-sur-Vie. Wird das ausreichen, um ihn seiner Vergangenheit zu überantworten? Und um die Umstände seines Schiffbruchs zu erfahren?
Eine Woche nach Ende des Sturms kam ein Matrose der Strathmore mit einer Mütze in der Hand zu mir. Die Mannschaft war meinem Freund für dessen Hilfe sehr dankbar und wollte sich erkenntlich zeigen. Ich übersetzte für Narcisse, und ein breites Lächeln trat auf sein Gesicht. Der Matrose zog ein handgeschnitztes Schiffsmodell mit der Inschrift «Umsegelung Kap Horn» und dem entsprechendem Datum aus der Mütze. Narcisse nahm es mit einer Feierlichkeit und Gerührtheit entgegen, die alle Worte ersetzte. Dann sagte er zu mir:
«Ich brauche ein Geschenk. Ich muss ihnen auch etwas schenken.»
Ich war oft genug über das Meer gereist, um diese Form der Höflichkeitzu kennen. Was konnten wir der Mannschaft schenken? Ich ließ eine weitere Flasche Portwein bringen, und Narcisse überreichte sie seinem englischen Kollegen. Zwei Abgesandte vor der Hohen Pforte oder vor dem Kaiser von China hätten sich die Geschenke nicht feierlicher überreichen können.
Seitdem trägt er das kleine geschnitzte Stück Holz immer bei sich.
Ich schaue Narcisse an, der das Meer anschaut. Seit nunmehr vier Monaten verbringen wir gemeinsam unsere Tage. Aus dem einst stummen weißen Wilden, der Furcht einflößte und zugleich verängstigt war, ist ein freundlicher und diskreter Reisegefährte geworden, der keinerlei Aufmerksamkeit erregt.
Und was ist mit mir? Hat mich dieses Abenteuer verändert? Meine Beobachtungen haben einige meiner Gewissheiten erschüttert. Was ist ein Wilder? Und falls Narcisse wirklich durch und durch ein Wilder geworden war, an welchem Tag, zu welcher Stunde wird er wieder ein Mitglied unserer Zivilisation sein? Was lehrt uns seine Lehrzeit über das Lernen? Und wer von uns beiden ist der Lehrling?
Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Ich weiß nur, dass die Geschichte von Narcisse keine schlichte Anekdote ist. Meine Studien am Gymnasium von Grenoble, meine Lektüren, meine Besuche bei der Société de Géographie, alles, was ich in Island und dem Pazifik entdeckt und gelernt habe, auch über mich selbst: All dies ist mir keine Hilfe, um Narcisse zu verstehen, aber es dient als Vorbereitung dazu. Mir fehlt es an geeignetem Werkzeug, um zu analysieren, was seine Entwicklung uns lehrt. Ich fange an zu begreifen, dass ich es selbst entwickeln muss.
Meine Mission wird mit unserer Ankunft in Frankreich nicht abgeschlossen sein. Wie könnte ich ihn einfach am Hafen im Stich lassen? Narcisse wird sein Leben fortführen, bei seiner Familie, falls es mir gelingt, sie zu finden, oder an einem Ort, den ich für ihn auswähleund an dem für seine Zukunft gesorgt sein wird. Doch das, was ich bis dahin an ihm beobachtet und kontinuierlich aufgezeichnet haben werde, wird Grundlage für ein umfänglicheres Projekt sein, das ich heute nur in groben Zügen erahnen kann – und ich weiß nicht, ob ich Kraft und Zuversicht genug haben werde, um es zu Ende zu führen. Es geht um mehr als um Narcisse und seine Geschichte, die Theorien, die es aufzustellen gilt, reichen weit über sein Schicksal hinaus. Die Anekdoten über seine Rückkehr nach Frankreich werden, so amüsant und vielseitig sie sein mögen, letztlich keineswegs unterhaltend, sondern hinderlich sein. Das darf ich nicht vergessen.
Ich benötige Ihre Hilfe, Monsieur le Président, um mein hochgestecktes Ziel zu erreichen. Endlich – endlich! – erahne ich, welche Richtung ich meinem Leben geben könnte, wenn mir dies gelingt. Werden die nächsten Lebensjahre von Narcisse am Ende etwa ereignisloser verlaufen als die meinen?
Ich kann Ihre weisen Ratschläge kaum erwarten und hoffe, auf den Azoren oder in London Ihre Briefe vorzufinden.
Hochachtungsvoll …
6
Nach seinem langen Ausflug vom Vortag meldete sich bereits am Morgen starker Hunger zurück.
Etwas im Gebaren des Stammes hatte sich verändert: Keiner von ihnen lachte oder spielte, die Wilden flüsterten, sie gingen nicht mehr miteinander spazieren und machten einen beunruhigten Eindruck. Im ersten Augenblick hielt er sich selbst für die Ursache, sich
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