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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Schwierigkeit.
    Er musste auch einen Weg finden, um sich fortzubewegen, ein Segel oder ein Ruder. Er musste sich nah an der Küste halten und nachts an Land gehen. Sonst lief er Gefahr, aufs offene Meer hinauszutreiben und die Orientierung zu verlieren. Er musste sich vor Steilklippen,Meeresströmungen, Windveränderungen und Seegang in Acht nehmen …
    Und der Proviant? Er wusste, dass er nicht länger als vier oder fünf Tage ohne Essen auskommen würde, und angesichts der Lebensgewohnheiten der Wilden hatte er keine Ahnung, wie er sich Reserven zulegen sollte. Und Wasser? Einen oder zwei Wassersäcke zu stehlen, war leicht. Doch konnte er dem Stamm alle Wassersäcke entwenden?
    Sein Floß musste über eine Art Koffer für den Proviant verfügen. Und über eine Art Kiel, wenn auch nur provisorisch, um auf Kurs zu bleiben. Er brauchte ein Paddel, einen Stab für Untiefen und einen Stein, den er als Anker benutzen konnte … In seinem Kopf begann eine einfache Piroge Formen anzunehmen.
    Wenn er sich auf den Weg machte, dann für immer. Umzukehren war undenkbar – wer weiß, wie der Stamm ihn empfangen würde, falls er mit seinem Versuch scheiterte. Kurs auf Süden, Richtung Sydney oder die erste weiße Siedlung an dieser Küste.
    Natürlich fehlte es ihm für einen Aufbruch an allem, und er hatte keine Idee, wie er sich das Material beschaffen sollte. Doch anstatt auf die Gunst des Schicksals in Gestalt eines rettenden Schiffs oder auf die Gunst der Wilden zu warten, musste er sich eben geduldig die notwendigen Kenntnisse aneignen, an den Vorbereitungen arbeiten und unermüdlich herumprobieren. Bei der ersten Gelegenheit würde er sich dann ins Abenteuer stürzen.
    Die Route übers Meer barg Gefahren, die er kannte. Die Route über Land hatte andere, ihm weniger vertraute Risiken: wilde Tiere, unbegehbares Sumpfland, giftige Insekten, Stämme, die noch wilder waren … Für welche sollte er sich entscheiden?
    Nichts drängte ihn. Gar nichts.
    Er hatte Zeit und ging wieder zur Frauengruppe zurück. Die Männer und jungen Leute waren immer noch nicht zurück, wahrscheinlich waren sie immer noch am Nordstrand mit irgendeiner Begräbniszeremonie beschäftigt. Er war mit den Frauen des Stammes allein.
    Unzählige Male hatten sie sich im Vorderdeck ein derartiges Szenario ausgemalt: keine feuchte Kälte mehr, kein beengtes Zusammenleben, kein Befehlsgebrüll Tag und Nacht, sondern am Ende der Welt unter Bäumen faulenzen, als einziger Mann unter nackten Frauen … Jeder wusste, dass es niemals so kommen würde, da konnten sie noch so obszöne Scherze machen und sich mit unglaublichen Liebesabenteuern brüsten, während sie auf ihre Wachschicht warteten. Die Ältesten unter ihnen erzählten anzügliche Details von kurzen Aufenthalten in den Tropen, während die Jüngeren von goldener Haut und langem schwarzen Haar träumten …
    Er war allein und nackt, in Gesellschaft von nackten Frauen, und sein Albtraum nahm kein Ende. Ihm entging nicht die Ironie seiner Lage. Beim Gedanken an den größten Aufschneider auf der Saint-Paul seufzte er: «Ach, mein guter Kermarec, wie gerne würde ich mit dir tauschen …»
    Eine plötzliche Unruhe unter den Frauen schreckte ihn aus seinen freudlosen Gedanken auf. Sie rannten auf den sandigen Küstenvorsprung zu, der die Runde Bucht nach Norden hin abschloss. Waiakh rief sie laut in freudiger Erregung. Er hatte im Sand eine Schildkröte entdeckt. Die Frauen liefen auf ihn zu und drehten das Tier mithilfe von Stöcken, die sie als Hebel einsetzten, auf den Rücken. Dann trugen sie es auf einer Matte zurück, die sie rasch aus Zweigen geflochten hatten.
    Zurück im Lager – die Alte, Narcisse und die Mütter mit Kleinkindern hatten sich nicht von dort fortbewegt –, entfachten sie ein Feuer und durchtrennten der Schildkröte mit einer scharfen Muschel die Kehle. Jede trank das Blut direkt aus der Wunde. Sie zerteilten das noch warme Tier und legten Fleischstücke auf flache Steine, die gegendie Feuerstelle gelehnt waren. Die langen Stücke aus weißem Fleisch brutzelten und bräunten und verbreiteten einen schwachen Geruch. Narcisse langte vorsichtig nach einem Stück, drehte es auf die andere Seite – eine Feinheit, die ihm keine der Frauen nachmachte – und nahm es vom Stein. Niemand verbot es ihm. Glücklich biss er in das Stück Fleisch, das ihn im Geschmack an Kalb erinnerte. Die Alten auf der Saint-Paul hatten die Vorzüge von Schildkrötenfleisch gerühmt, und jetzt begriff er,

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