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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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war wohl auch besser, gar nicht erst zu träumen. An Essen war nicht zu denken. Mir fehlte die Kraft, mich um Narcisse zu kümmern oder mit ihm zu sprechen.
    Der Sturm machte ihm nichts aus, er war weiterhin trittfest und hatte einen guten Appetit. Nach drei Tagen Nichtstun und Langeweile wollte er bei den Segelmanövern mithelfen. Ich konnte ihn nicht von diesem Vorhaben abbringen und unterbreitete es zwischen zwei Übelkeitsanfällen dem Kapitän der Strathmore. Ich betonte, dass es sich nicht um eine Laune handelte und dass mein Freund Erfahrung als Seemann besaß. Der Kapitän dachte wahrscheinlich, dass er es mit einem Sonntagssegler zu tun hatte, und lehnte höflich ab. Es sei für ihn undenkbar, einen Passagier der ersten Klasse bei heftigem Sturm in die Takelage zu entsenden – es sei denn, der Schiffbruch stünde bevor, aber so weit sei man noch nicht! Außerdem würde er die auf Englisch gebrüllten Befehle nicht verstehen. Ich überredete ihn und bat ihn darum, Narcisse einen Posten an den Schoten zu geben.
    Der Kapitän war des Diskutierens überdrüssig, gab nach und erlaubte ihm, zusammen mit dem diensthabenden Matrosen das Schiff auf Kurs zu halten. Er setzte eine Flasche Portwein darauf, dass mein Freund nicht mehr als eine Viertelstunde durchhalten würde.
    Der Oberbootsmann lieh Narcisse Seemannskleidung – eine wattierte Jacke samt Hosen aus geöltem Leinen, eine Kappe und Wollhandschuhe. Stiefel wollte Narcisse nicht, er ging mit bloßen Füßen in die Schneeböen hinaus.
    Er arbeitete den ganzen Tag über in den Schoten. Nach wenigen Minuten schon hatte er die Handgriffe wiedergefunden, um das Schiff über die Wellen dahingleiten zu lassen, es durch Wellentäler und über Kämme zu steuern, es im besten Winkel im Wind und zugleich auf Kurs zu halten. Der Wind heulte, der Schneeregen peitschte horizontal aufs Deck, und es war unmöglich, mit ihm zu sprechen,ebenso wenig mit dem Matrosen, der sich mit ihm die Aufgabe teilte und froh über diese unerwartete Hilfe war.
    Beim Schichtwechsel wollte Narcisse nicht abgelöst werden, sondern er aß nur zwei Bissen und trank einen Tee. Der neue Matrose war unerfahrener und überließ Narcisse das Kommando. Gegen drei Uhr warf Ersteren eine Welle um, er schlug sich den Kopf an einem Metallstück auf, verletzte sich Stirn und Augenbrauen. Halb betäubt und blutüberströmt ging er unter Deck, um sich verbinden zu lassen. Ich weiß nicht, ob der diensthabende Offizier sich dessen im Klaren war, aber der Mann wurde nicht mehr ersetzt.
    Nach Sonnenuntergang überließ Narcisse seinen Posten einem anderen und begab sich direkt in seine Koje, um dort, ohne zu essen und bis auf die Knochen nass, zu schlafen. Beim Abendessen, zu dem ich mich schleppte, um etwas Suppe zu mir zu nehmen, gestand mir der Kapitän die gewettete Flasche Portwein zu. Ich bat ihn, den Wein der Mannschaft bringen zu lassen, sobald wir dieses stürmische Meer hinter uns gelassen hätten.
    Am folgenden Morgen erfuhr ich, dass Narcisse gegen Mitternacht aufgestanden war und den nachfolgenden Matrosen in den Schoten geholfen hatte, und zwar bis zum Morgengrauen, falls man jenen Augenblick so nennen kann, in dem kaltes bleiernes Licht durch die Wolkendecke auf das grau schäumende Meer scheint und Himmel und Meer eins werden.
    Acht Tage lang arbeitete Narcisse acht bis zehn Stunden lang in den Schoten, gefolgt von drei oder vier Stunden Schlaf. Ein Stück Brot, das er in seiner Jacke behielt und an dem er stückchenweise kaute, genügte ihm. Die anderen seekranken Passagiere bekamen von dieser Heldentat nichts mit. Die Offiziere und die Mannschaft drückten ihre Bewunderung aus und bedankten sich.
    Als das Kap Hoorn endlich umschifft war und die Strathmore auf Nordkurs in den Atlantik kam, wichen Stürme und Riesenwellen gemäßigter Kreuzsee und schlechtem Wetter. Narcisse verließ seinenPosten, legte seine regenfeste Kleidung ab und schlief drei Tage am Stück.
    So hatte er also nach all den Jahren, in denen er seit seinem Schiffbruch nicht mehr gesegelt war, bei Unwetter die Grundhandgriffe seines Berufs wiedergefunden. Seine Erinnerung kehrte in Etappen zurück, nicht nur der Wortschatz und die Erinnerung an seinen Geburtsort, sondern auch die Reflexe eines erfahrenen Seemanns.
    Als er sich ausgeruht hatte und wiederhergestellt war, fragte ich ihn, warum er sich in dieser Weise den Elementen ausgeliefert hatte: Das Schiff war nicht in Gefahr gewesen, und er hätte ebenso gut im Warmen

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