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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Kenntnis unserer Sprache ist somit nicht in ihm gelöscht, wie die Worte aus einem Buch, das unter Wasser getaucht wurde, sondern sie sind gefroren. Seine Unterhaltungen mit mir und sogar das Rezitieren von Racine ganz zu Anfang muss man sich wie eine lauwarme Brise vorstellen, die über diese Eisfläche streicht, sie immer weiter auftaut, bis so manche Stelle und schließlich alles zum Vorschein kommt, was die Eismassen unter sich begraben hatten. Bilder aus Island steigen in mir auf, von Wollgras, das an den Rändern von noch halb verschneiten Wiesen durch den Schnee bricht. Gesegnet sei die englische Dame, die mich zu dieser Entdeckung gebracht hat.
    Des Nachmittags zog sie sich oftmals, angeblich seekrank, in ihre Kabine zurück. Einige Augenblicke darauf verschwand auch Narcisse. Und morgens im Salon zwinkerte er mir zu und hob den Daumen.
    Drei Tage vor unserer Ankunft in Valparaíso unterhielten wir uns in der guten Luft des Hinterdecks über dies und das. Vielleicht ist das Verb «unterhalten» nicht wirklich zutreffend, denn meist redete ich vor mich hin, und Narcisse hörte zu, nur manchmal, viel zu selten, sagte er etwas. Ich erinnerte ihn daran, dass er nach unserer Ankunft in Frankreich sein altes Leben wieder aufnehmen könne. Er bat mich, den Satz zu wiederholen, das hatte er noch nie getan. Ich gab mir Mühe, klar zu sprechen. Und er antwortete deutlich:
    «Vie … Vie … Gil … Vie.»
    Diese spontane Assoziation war etwas Außergewöhnliches und das «Gil» ebenso neu wie das vulgäre Wort, von dem ich Ihnen allzu ausführlich erzählt habe. Narcisse’ Gesichtsausdruck wurde überraschend ernst und konzentriert. Er wiederholte:
    «Gil … Vie.»
    Welches Leben mochte da so undeutlich aus seiner Erinnerung hervorschwimmen? Und was hatte jenes «Gil» oder «Gilles» zu bedeuten? Ich weiß nicht, warum, vielleicht war es der Anblick des Meers und der Wellen, der mich an einen Ort in der Vendée denken ließ. Ich wollte ihn nicht zu sehr beeinflussen und schlug vor:
    «Gilles-sur-Vie.»
    «Saint-Gilles-sur-Vie», antwortete Narcisse mir auf Anhieb und war genauso überrascht wie ich, dass er den Ortsnamen vervollständigt hatte.
    «Kennst du Saint-Gilles-sur-Vie?»
    «Ich weiß es nicht.»
    Er wiederholte den Namen mehrmals, wie um dessen Klang nachzuspüren und darüber zu anderen Lauten, anderen Erinnerungen zu gelangen.
    «Narcisse, stammst du aus Saint-Gilles-sur-Vie? Hast du dort gelebt? Sind dort deine Eltern?»
    Wortlos ging er davon, begab sich zum Heck und verlor sich in der Betrachtung des Kielwassers, das ihm den Weg nach Australienwies. Woran dachte er? Ich respektierte seinen Wunsch nach Ruhe.
    Welche andere Stadt als jene, in der man geboren und aufgezogen wurde, in der man gespielt hat und zur Schule gegangen ist, kann mit einer derartigen Wucht aus einem beschädigten Gedächtnis wiederauftauchen?
    Der weiße Wilde ist kein Unbekannter mehr. Er heißt Narcisse und stammt aus Saint-Gilles-sur-Vie.
    Ich habe dem Bürgermeister der Gemeinde einen Brief geschrieben, um zu erfahren, ob vor zehn oder zwanzig Jahren ein aus diesem Ort stammender Mann verschwunden ist.
    Jeder Tag bringt uns Europa näher, und ich begreife langsam, was dort meinetwegen auf Narcisse zukommen wird.
    In Valparaíso hielten wir uns nicht lange auf, wir setzten die seekranke englische Dame an Land, lieferten die Post ab und nahmen neuen Proviant mit an Bord. Der Kapitän befürchtete, dass ein Teil der Mannschaft bei einem Landgang desertieren und sich nach Kalifornien absetzen würde, wo das Goldfieber, das Schiffsbesatzungen schneller dezimiert als eine Choleraepidemie, Glückssucher aus der ganzen Welt anlockt.
    Noch am gleichen Nachmittag nahmen wir Kurs gen Süden.
    Sehr schnell gerieten wir in schlechtes Wetter und bald auch in einen Sturm. Eine nicht enden wollende Woche lang machte das winterliche Kap Hoorn bei der Umschiffung seinem schlechten Ruf alle Ehre. Sie werden die entfesselten Meeresgewalten bei grünlichem Himmel, die Angst vor Eisbergen oder Riesenbrechern kennen, und auch den Anblick von Albatrossen und Kapsturmvögeln, die vor den heftigen Schneeböen fliehen: Ich werde gar nicht erst den Versuch machen, Ihnen das alles zu beschreiben.
    Den meisten Passagieren, darunter auch meine Wenigkeit, wurde unwohl bei all dem Schlingern und Stampfen, all dem Lärm der Wellen,die wie Häuser über dem Schiffsrumpf zusammenbrachen. Es war unmöglich, in einer der rüttelnden Kojen einzuschlafen, und es

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