Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Breitengrade waren, wo die Arbeit weniger anstrengte. Er hatte seinen Dienst beendet, war unter Deck gegangen, hatte sich die Kleider abgestreift und sie an den Nagel gehängt, war tastend zu seiner Hängematte getappt und hatte seine Hand, nachdem er sich unter der dünnen Decke ausgestreckt hatte, auf seine Hose gelegt. Während er seinen Atem kontrollierte und auf die Geräusche und Bewegungen des Schiffes achtete, war er wieder in das Bordell in Kapstadt zurückgekehrt und hatte die Hure, für die er damals drei Münzen bezahlt hatte, erneut genommen. Und nun in der Kuhle, im Sand, der ihm in seiner Hütte als Fußboden diente, sah er sich wiederum in der Hängematte liegen, damit beschäftigt, sich Lust zu verschaffen, ohne die anderen zu wecken.
Seine Beine lagen ausgestreckt, die Augen waren geschlossen, er atmete schnell und dachte an nichts anderes mehr.
Als er fertig und in die Nordbucht zurückgekehrt war, sank er in sich zusammen und begann zu weinen: Die Tränen brachen aus ihm hervor, und er gab sich ihnen hin, wie er sich seiner Lust hingegeben hatte. Er spürte sie über seine Wangen rinnen und mit ihnen seineUnfähigkeit, sowohl die Unfähigkeit, in diesem Stamm zu leben, als auch die Unfähigkeit, ohne ihn auszukommen. Er gewöhnte sich allmählich an das körperliche Elend, die ungewisse Zukunft, die Nacktheit, die scheußliche Nahrung. Doch völlige Einsamkeit war ungleich schwerer zu ertragen: Er begriff, dass er dazu verurteilt war, jegliche zwischenmenschliche Beziehung aufzugeben. Freundschaft, Kameradschaft, Liebe, Zusammenhalt, Respekt, Verführung, Sex, die gesamte Spannbreite menschlicher Gefühle würde ihm fortan verwehrt bleiben. Niemanden zu haben, mit dem er sein Leben teilen konnte – das schmerzte ihn am meisten. Und sich selbst zu beweinen linderte diesen Schmerz ein wenig.
Der Dorfpfarrer hatte den Jungen immer gesagt, dass jedes Mal, wenn sie abends in ihrem Bett gewisse schmutzige Dinge taten, ihr Schutzengel weinte. Sollte er doch! Sein Engel sollte jetzt weinen und ihm helfen, anstatt ganz bequem dort oben im Himmel zu bleiben!
Er hatte noch nie jemanden aus dem Stamm weinen sehen. Nichts, er hatte nichts mit ihnen gemein. Mit ihren Frauen und Töchtern wollte er nichts zu tun haben. Seine Lust würde so einsam sein wie seine Gedanken, seine Ängste, seine Pläne und Erinnerungen.
Er stand auf und wusch sich in den Wellen der Meeresflut ab. Waiakh lief auf ihn zu und wollte spielen, aber er beachtete ihn absichtlich nicht und ging weiter ins Meer hinaus, wohin das Kind ihm nicht mehr folgen konnte. Er ging noch ein Stück weiter, bis ihm das Wasser bis unter das Kinn reichte. In der Ferne brachen sich die Wellen am Riff und ließen am Horizont vergängliche Gebilde entstehen, die in sich zusammenfielen, um sich sogleich aufs Neue zu formen. Eine Fregatte schwebte heran und bald auch eine zweite, ein elegantes luftiges Ballett. Und wenn er hier ausharrte? Er konnte nicht schwimmen. Das Wasser würde langsam ansteigen, seinen Mund, die Nasenlöcher und Augen erreichen. Er musste nur ein bisschen Mut undWillenskraft aufbringen, um abzuwarten, bis das lauwarme Meer ihn durchströmen und befreien würde …
Als eine Welle ihm in den Mund schwappte, spuckte er das Wasser aus und sagte leise in Richtung Horizont: «Ich heiße Narcisse Pelletier und bin Matrose auf der Saint-Paul.»
Sechster Brief
London, 2. August 1861
Monsieur le Président,
Ihr Brief vom 25. Juli lag im Hotel für mich bereit. Sie überhäufen mich darin mit Komplimenten, was Narcisse’ Fortschritte in Australien anbelangt, und sprechen mir den Verdienst dafür zu. Meine jüngsten Briefe werden Ihnen hierüber näher Auskunft geben und, wie ich hoffe, einen Teil Ihrer Fragen und Hinweise beantwortet haben. Die Entfernung zwischen uns ist beträchtlich kleiner geworden, und unser Dialog, den wir über die Meere hinweg geführt haben, wofür ich Ihnen unendlich dankbar bin, wird sich nunmehr einfacher gestalten.
Diese drei Tage hier in London sind wie im Fluge vergangen, waren aber auch sehr aufreibend.
In aller Frühe gingen wir von Bord der Strathmore und nahmen eine Pferdedroschke, die uns vom Hafenviertel zum Savoy brachte. Narcisse betrachtete die Lagerhallen, Fabriken, den Rauch, die Parks, die rußgeschwärzten Häuser, die Palastgebäude, die Saint Paul’s Cathedral, den grauen Himmel, die Menschenmenge, Kinder, Pferde, die Frauen mit ihren Hüten, die Kreuzungen, Stadtpolizisten,
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