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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sondern sich im tiefsten Australien befand. Folglich muss er achtzehn Jahre bei den Wilden verbracht haben. Achtzehn Jahre! Irgendein dramatisches Ereignis hat sein Leben in zwei gleiche Hälften zerteilt, und nun muss er ebenso plötzlich den Sprung von der Barbarei zurück in die Zivilisation leisten. Achtzehn Jahre! Wie schafft man es, eine so lange währende Isolation auszuhalten oder sich auch nur auszumalen?
    Ich antwortete dem Bürgermeister von Saint-Gilles und erzählte ihm in wenigen Worten, unter welchen Umständen ich in Australien einen der dortigen Bürger mit dem Vornamen Narcisse kennengelernt hatte, einen Seemann, der lange Zeit bei den Wilden gelebt und seine Vergangenheit vollständig vergessen hatte. Eine kurze Beschreibung seines Äußeren, die Tätowierungen ausgenommen, schloss meine Ausführungen ab. Ich bat ihn, die Verwandten über seine bevorstehende Rückkehr in Kenntnis zu setzen, und zwar mit der Einfühlsamkeit, die angesichts einer solch überraschenden guten Nachricht geboten ist. Die Rückkehr von Narcisse in den Schoß seiner Familie sei wichtig. Er möge uns in Paris informieren, sobald derEmpfang des verlorenen Sohnes entsprechend vorbereitet sei, und ich würde Narcisse dann umgehend dorthin geleiten.
    Der unverständliche Ausruf des weißen Wilden «’Sis-Tié-Let-Pol», der in den ersten Tagen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hatte, bedeutete mithin: «Narcisse Pelletier von der Saint-Paul». Diese Wortbrocken, die allen Sinn verloren hatten, waren das Letzte, was ihn mit seinem alten Leben verband und womit er sich als der auswies, der er war.
    Das Schreiben an den Bürgermeister war kaum verfasst, da verlangte ein Journalist des Daily Mirror nach uns. Ich ging allein in den Salon hinunter. Der junge Mann hielt sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf: Er habe von Narcisse’ Schicksal erfahren. Auf welchem Wege? Von einer englischen Lady, die, aus Sydney kommend, vor Kurzem in San Francisco an Land gegangen war und ihre Anekdote einem kalifornischen Verwandten erzählt hatte. Innerlich wetterte ich gegen das achtlose Geschwätz dieser Dame – oder sollte ich besser sagen, Abenteurerin? Mein Unwille wuchs weiter, als ich die dummen Fragen dieses Schreiberlings vernahm, der Australien wahrscheinlich nicht einmal auf der Landkarte fand. War Narcisse ein Menschenfresser? Stellten seine beeindruckenden Tätowierungen Feinde dar, die er im Kampf getötet hatte? Hatte er die drei Töchter des Häuptlings geheiratet? Warum war er auf die Matrosen losgegangen, die ihn erretteten, und war dem Kapitän wirklich nichts anderes übrig geblieben, als ihn mit einer Angelleine zu fesseln? Ruhig widersprach ich all diesen Dummheiten und versuchte, den sanften Charakter von Narcisse zu beschreiben sowie seine Fortschritte beim Wiedererlernen der französischen Sprache und der Umgangsformen. Ich schwieg mich vorsorglich darüber aus, in welchen Punkten ich gescheitert war, wie auch über das Liebesabenteuer mit besagter Lady und Narcisse’ Weigerung, über die Zeit bei den Wilden zu sprechen. Der Journalist, der mir, während er sich Notizen machte, nur halb zuhörte,wollte mit ihm sprechen. Ich untersagte es ihm. War das richtig? Er bestand nicht weiter darauf und zog von dannen.
    Kaum saß ich wieder in meinem Zimmer am Schreibtisch, da platzte Narcisse herein. Seine Kleidung war in Unordnung, und er hatte einen verwirrten Gesichtsausdruck, den ich nicht an ihm kannte. Alles, was er sagte, war: «Komm!». Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch, er ging sogleich zurück in sein Zimmer, das neben meinem lag. Dort entdeckte ich ein Zimmermädchen in ihren Unterröcken, die gerade dabei war, sich das Korsett zurechtzurücken, und leise Verwünschungen ausstieß. Ich fragte sie, was passiert sei. Sie antwortete mir in jenem furchtbaren Englisch der einfachen Leute in London:
    «Ihr Freund da versteht kein Wort Englisch. Es hat ihm ganz gut in den Kram gepasst, mir schöne Augen zu machen und mich in sein Bett zu ziehen. Aber jetzt, da er alles bekommen hat, was er wollte, will er mir nicht einmal das kleine Geschenk machen, das mir zusteht …»
    Mithilfe von ein paar Schilling wurden wir das Mädchen los. Und dann musste ich mich anstrengen, um Narcisse zu erklären, was sich ereignet hatte. Käufliche Liebe ist und bleibt für ihn ein Rätsel. Wenn ich ihn recht verstehe, ist der Liebesakt zwischen Mann und Frau für ihn Selbstzweck, und er begreift nicht, dass man daraus einen anderen

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